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Editorial in EuS 1(1990)H.1: 5-6

Frank Benseler, Bettina Blanck, Rainer Greshoff, Werner Loh

((1)) Auch im Alltag wird häufig zunächst erwogen und dann gehandelt. Nun könnte man der Auffassung sein, daß gerade in den Wissenschaften besonders sorgfältig erwogen werde. Hieraus ließe sich folgern, daß wissenschaftliche Zeitschriften in ihrem Aufbau dem Rechnung tragen. Wesentliches Ziel solcher Zeitschriften wäre es dann, durch ihre Verfassungen Foren von Vielfalt zu jeweiligen Problemen zu sein. Unserer Einschätzung nach erfüllen wissenschaftliche Zeitschriften diese Aufgabe zu wenig. Aus dieser Beurteilung heraus haben wir die Konzeption des Streitforums für Erwägungskultur ETHIK UND SOZIALWISSENSCHAFTEN (EuS) entwickelt: Zu Hauptartikeln sollen Kritiken verfaßt werden, auf die die Autorinnen und Autoren in einer Replik antworten müssen. Diese Diskussionseinheiten können in Metakritiken erörtert werden.

((2)) Die Zeitschrift EuS knüpft einerseits an vorhandene Auseinandersetzungsformen an, will andererseits durch ihre besondere Gestaltung der oben angedeuteten Idee näher kommen. Die in den Hauptartikeln entfalteten Themen sollen in den Kritiken möglichst vielfältig diskutiert werden. Repliken sind erste Reaktionen auf diese Vielfalt.

((3)) Wenn es zu begründeten wissenschaftlichen Lösungsvorschlägen gehören sollte, daß sorgfältig erwogen worden ist, so stellt sich über die oben angedeuteten historischen Zusammenhänge hinausführend die systematische Frage, ob und wie das Erwägen als eigenständige Aufgabe zu institutionalisieren sei. Neben Lösungsforschungsständen müßten eigene Erwägungsforschungsstände angestrebt werden. Erwägungsforschungsstände können, wenn man andere Referenzen beachtet, selbst als Lösungsforschungsstände angesehen werden. Da es aber nicht explizite Aufgabe der Diskussionseinheiten ist, hinsichtlich der thematisierten Vielfalt zwischen Erwägungs- und Lösungsforschungsständen zu unterscheiden, wurde die Idee entwickelt, hierfür eine besondere Kritikinstanz zu schaffen, die experimentellen Charakter haben soll. Gegenstand dieser besonderen Kritikinstanz ist die gesamte Diskussionseinheit. Dabei soll die Vielfalt nicht zensierend im Sinne der Auszeichnung einer Lösung beurteilt, sondern forschungsförderlich sowohl in ihrer Spannbreite erwägend geordnet und eingeschätzt als auch hinsichtlich der Auseinandersetzungsformen bedacht werden. Wir haben diese Kritikinstanz “Metakritik” genannt, die somit Erwägungen und/oder Lösungen erwägen und die Erforschung von Regeln für den Umgang mit jeweiliger Vielfalt ermöglichen soll.

((4)) Die historischen und systematischen Überlegungen, die zum Konzept der Metakritik führten, haben Konsequenzen für die Verfassung des Streitforums, die dieses noch in anderer Hinsicht grundsätzlich von bisherigen wissenschaftlichen Zeitschriften unterscheidet:

((5)) Um in unserer geschichtlichen Situation Vielfalt nicht von vornherein unbegründet einzuschränken, genügt es nicht, eine richtungsübergreifende Zeitschrift zu institutionalisieren. Denn, wenn es keine richtungsübergreifenden, allgemein anerkannten Kriterien für den Umgang mit Vielfalt gibt, dann muß für eine solche Zeitschrift die Kriterienfrage auch in ihren Beiträgen selbst zum Thema werden. Dies hat besonders Konsequenzen für die Herausgeber und die Herausgeberin (im folgenden “Editionsgruppe” genannt) hinsichtlich der Bewertung von Beiträgen.

((6)) Wenn die Kriterienfrage noch in Beiträgen diskutiert werden soll, dann darf die Editionsgruppe dafür nicht allein in Anspruch genommen werden. Auch deshalb wird für EuS ein umfangreicher wissenschaftlicher Beirat im Sinne von Programm und Statut aufgebaut. Hierdurch wird es möglich, Funktionen traditioneller HerausgeberInnen in diesem Punkt auch dem Beirat zu überlassen. Im Statut sind für die Beiratsmitglieder entsprechende Rechte formuliert worden. Neben dem Recht, zu angenommenen Themen einen Hauptartikel zu veröffentlichen, besteht das wichtigste Recht der Beiratsmitglieder in dem Recht zur Kritik an jedem Hauptartikel: Alle Autorinnen und Autoren, die in EuS veröffentlichen, müssen mit der Möglichkeit rechnen, von Beiratsmitgliedern, die verschiedensten Richtungen angehören, kritisiert zu werden. Die Mitglieder der Editionsgruppe sind auch Beiratsmitglieder und können sich als solche an den Diskussionen beteiligen. Sie sind auf diese Weise in den Kritikprozeß integriert. 

((7)) Der Beirat von EuS kann nur Grundpotential für den angestrebten Diskussionsprozeß des Streitforums sein. EuS ist daher auf WissenschaftlerInnen außerhalb des Beirats angewiesen und für deren Beiträge offen.

((8)) Von inhaltlichen Bewertungen der ‘wissenschaftlichen Qualität’ der Artikel ist die Auswahl der Themen deutlich abzuheben. Die Editionsgruppe orientiert sich hinsichtlich der Themenannahme daran, daß die Interdependenz von Problemlagen interdisziplinäre, grundsätzliche und Vielfalt berücksichtigende Diskussionen erfordert. Die >Themenliste< gibt Beispiele hierfür.

((9)) Der Versuch, mit EuS einen neuen Typ wissenschaftlicher Zeitschrift zu initiieren, kann in dem Maße zu Mißverständnissen führen, wie man sich bloß auf die traditionellen Veröffentlichungsregeln und Auseinandersetzungsformen bezieht und nicht den besonderen Gesamtzusammenhang des Streitforums beachtet.

((10)) Wer einen Beitrag in EuS veröffentlichen möchte, weiß, daß er diesen in einen öffentlichen Diskussionszusammenhang einbringt. Die Frage, wie die ‘Qualität’ der Beiträge und ihre Einschätzung in EuS beschaffen ist und sein wird, ist von diesem Zusammenhang her zu bedenken. Die Diskussion, die sich über mehrere Hefte hinweg entfalten mag, soll ja nicht allein Einschätzungen, z. B. in den Kritiken, darlegen, sondern auch die Kriterien für diese erörtern lassen. Erst ein solches Zusammenspiel läßt auf Dauer hoffen, zu begründeteren Einschätzungen und ausgewieseneren Maßstäben zu gelangen. Daß dies gegenwärtig nicht der Fall ist, zeigt sich auch darin, daß sich bisher in Beiträgen zu etlichen Hauptartikeln eine Spannbreite von voller Zustimmung bis hin zu gänzlicher Ablehnung äußert. Dies wird besonders in Korrespondenzen deutlich, in denen einerseits für einen Hauptartikel eine Kritik abgelehnt wird, weil dieser noch nicht einmal Minimalanforderungen eines wissenschaftlichen Beitrages erfülle und den man nicht noch durch eine Kritik aufwerten wolle, und andererseits einige eine Kritik zu demselben Hauptartikel deshalb ablehnen, weil es nichts zu kritisieren gebe und man dem Autor bzw. der Autorin nur zustimmen könne. Trotz der angestrebten Vielfalt kann es also dennoch zu Einseitigkeiten kommen. Das bedeutet z. B., daß die sich in den Korrespondenzen äußernde Vielfalt an Einschätzungen nicht immer in den Kritiken zum Ausdruck kommen muß, wodurch ein Hauptartikel als durchgängig abgelehnt erscheinen mag, obgleich er doch in Korrespondenzen von kompetenten Seiten Zustimmung gefunden hat.

((11)) Die Editionsgruppe will wegen des dargelegten Gesamtzusammenhanges Erwartungen und Ansprüchen begegnen, die diesen einschränken oder zerstören würden. Dies wäre etwa dann gegeben, wenn sie zu angenommenen Themen ordnungsgemäß eingereichte Beiträge den Verfassern/Verfasserinnen etwa mit der Bitte um Überarbeitung zurückschicken würde, weil ihre Beiträge inhaltlich Qualitätsmaßstäben nicht entsprächen. Ebenso folgt die Richtlinie, daß in Korrekturfahnen nur noch >Tippfehler< zu verbessern sind und inhaltlich nichts verändert werden darf, aus der Überlegung, diesen Gesamtzusammenhang zu wahren.

((12)) Weitere Mißverständnisse ergeben sich zuweilen aus der isolierten Betrachtung eines einzelnen Beitrages oder einer einzelnen Position. Werden Beiträge aus Richtungen, die z.B. politisch oder weltanschaulich als extrem eingeschätzt werden, publiziert oder WissenschaftlerInnen dieser Richtungen in den Beirat aufgenommen, so könnte das zu Befürchtungen oder Hoffnungen Anlaß geben, daß man diesen Richtungen zu wissenschaftlicher Anerkennung und/oder Aufwertung verhelfe. Dies wäre ein Mißverständnis, weil die Beiträge des Streitforums nicht für sich allein als Lösungsangebote dastehen, sondern Bestandteile eines Erwägungskontextes und als solche immer in Erwägungen aufzuheben sind.

((13)) Die Abgabe von Funktionen, unter anderem an den Beirat, hat nicht eine Entlastung der Editionsgruppe zur Folge, sondern erfordert umgekehrt einen besonders hohen Koordinationsaufwand, der mit einer fortwährenden konzeptuellen Entwicklung einhergehen muß. Insofern ist die Zeitschrift selbst ein Forschungsprojekt und ihre Redaktion eine Forschungsredaktion.

((14)) Diese Forschungstätigkeiten sind seit Gründung der Zeitschrift in unterschiedlicher Weise von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterstützt worden. Ihnen allen und insbesondere den Beiratsmitgliedern der ersten Phase sowie allen Autorinnen und Autoren der ersten Hefte danken wir sehr herzlich und hoffen weiterhin auf erwägungsorientierten Streit. 

Editorial in EWE 13(2002)H.1: 3

Frank Benseler, Bettina Blanck, Reinhard Keil-Slawik, Werner Loh

((1)) Das ursprüngliche Programm (s. Anhang) des Streitforums für Erwägungskultur »Ethik und Sozialwissenschaften« (EuS) konstatiert eine Vielfalt an Orientierungen und Konzepten und stellt dabei zugleich ein Defizit fest:
”... Es fehlt an Wissen, diese Vielfalt adäquat-umfassend zu berücksichtigen. In welchem Ausmaß diese Vielfalt verarbeitet wird, hängt auch von der Aufnahmebereitschaft und Konkurrenzsituation ab. Jeweilige Lösungsvorschläge sind aber ohne die Erwägung verschiedener Möglichkeiten weder hinreichend zu begründen und zu verantworten noch als dezisionäre einzuschätzen.”
Diese Charakterisierung gilt nicht nur weiterhin (s. überarbeitetes Programm im Anhang), sondern sie hat angesichts zunehmender Herausforderungen noch an Relevanz gewonnen : ”Die Zeitschrift lebt von dem Bewußtsein, daß die fundamentalen Herausforderungen - wie: Gen- und Medizin-, Computer- und Robotertechnologie, Erschließung des Weltraums, ökologische Problemlagen und Kriegsgefahren - mit ihren geschichtlich unabsehbaren Konsequenzen nicht nur ein gegenseitig förderndes Zusammenwirken von Ethik und Sozialwissenschaften, sondern auch einen neuen Umgang mit Orientierungen und Konzepten erfordern.” (Ursprüngliches Programm)
Je mehr neue Technologien Gestaltungsdispositionen eröffnen, die zudem mit weitreichenden kulturell-gesellschaftlichen Veränderungsprozessen verknüpft sind, desto dringlicher wird es, einen angemessenen Umgang mit dieser Dispositionsvielfalt zu entwickeln. Es ist herauszufinden, inwiefern die enormen technischen Möglichkeiten durch erwägende Prozesse, insbesondere im Kontext der Herstellung und Nutzung digitaler Medien sowie hierfür zu entwickelnder Medienkompetenz, verantwortungsorientiert nutzbar gemacht werden können.

((2)) In Zukunft soll die Zeitschrift stärker die methodische Ebene des Erwägens fördern. Ethische Fragen nach grundlegenden Orientierungen sollen wie bisher erörtert werden. Eine den Herausforderungen angemessene Inter- und Transdisziplinarität sollte allerdings nicht durch eine disziplinäre Bindung an "Sozialwissenschaften" thematisch beschränkt werden. Die methodische Vertiefung, die bislang im Untertitel zum Ausdruck kam, und die thematische Erweiterung der Zeitschrift wird deshalb nun in einem Titel zum Ausdruck kommen: “Erwägen Wissen Ethik (EWE)”. Diese Titeländerung bedeutet keinen Kontinuitätsbruch. Sie stellt vielmehr die konsequente Weiterentwicklung des Zeitschriftenprojektes als Forschungsprojekt dar.

((3)) Eine weitere Titelveränderung betrifft die Rubrik “Metakritik”. Die bisherige Metakritik kann wegen fehlender und noch zu erforschender Methoden des Erwägens in die Gefahr geraten, zur zensierenden Superkritik oder zur richterlichen Instanz zu werden. Um derartigen Missverständnissen zu begegnen und um das methodische Anliegen auch sprachlich deutlicher zu machen, wird die Bezeichnung “Metakritik” durch “Erwägungssynopse” ersetzt.

((4)) Stärker als bisher sollen neue Veröffentlichungsformen erschlossen werden, die der Weiterentwicklung der Zeitschrift förderlich sind:
 – Es sollen Diskussionen initiiert werden, die sich direkt der Frage des Umgangs mit Alternativen widmen, wenn etwa zu einem ausgewählten Textkorpus (z. B. Klassiker-Texte) Vertreter und Vertreterinnen verschiedener Richtungen ihre Deutungen darlegen und miteinander zu vermitteln versuchen. – Eine erwägungsorientierte Diskussion ist oft dann besonders klärend, wenn sie als Basis für das jeweilige Problemgebiet verschiedene konkrete Beispiele besitzt. Für diese Aufgabenstellung werden neue Diskussionsformen entwickelt. – Zu für das Zeitschriftenprojekt grundlegenden Themen sollen öfter als bisher Anfragen formuliert werden, die besonders Thesen und Begriffsdefinitionen betreffen. – Die bisherigen EuS-Diskussionen eignen sich, einen Überblick zu jeweiligen Forschungsständen zu gewinnen. Deswegen wird EuS zunehmend auch in Seminaren eingesetzt. Die Teilnehmenden dieser Seminare haben die gleichen methodischen Fragen im Umgang mit der kontroversen Vielfalt wie Personen, die Erwägungssynopsen verfassen. EWE bietet zukünftig Raum für »Seminarberichte in erwägungsorientierter Absicht«. Hierdurch mögen forschungsmethodische Fragen zugleich auch didaktische Fragen werden.

((5)) Auch wenn es angesichts der finanziellen Unterausstattung von »Erwägen Wissen Ethik« nicht absehbar ist, wie schnell sich die forschungsintensiveren Vorhaben werden realisieren lassen, so soll weiterhin die Idee verfolgt werden, die Zeitschrift angesichts von instabilem Wissen weniger als Organ der Präsentation von Wissen als vielmehr als Forschungsinstrument zu verstehen, welches Wissen über Erwägungen hinweg zu verbessern trachtet.