Buchrezension “Himmelsbegräbnis – Die Geschichte einer großen Liebe” von Florian Ikemeyer

Buchdetails:

Buchcover

Autor: Xinran Xue (Xīnrán Xuē 薛欣然)

Ãœbersetzung: Aus dem Englischen von Sigrid Langhaeuser

Titel: Himmelsbegräbnis – Die Geschichte einer großen Liebe

Erscheinungsjahr: 2004 (Originalausgabe), 2005 (Deutsche Ãœbersetzung)

Verlag: Knaur TB, München

Genre: Roman

Seitenanzahl: 176

ISBN: 978-3-426-77878-4

Preis: 8,99€ (Taschenbuch)

Autor:

Xinran Xue (XÄ«nrán XuÄ“ 薛欣然), 1958 in Beijing (Peking) geboren, ist eine chinesische Journalistin und Schriftstellerin. Nach ihrer Ausbildung arbeitete die junge, aufstrebende Xinran als Radiojournalistin in Nanjing und moderierte von 1989 bis 1997 die in ganz China und in weiten Teilen von Asiens äußerst beliebte Rundfunksendung „Qin Feng Ye Hua“ – „Worte im Abendwind“. In dieser Sendung konnten die Zuhörer – vor allem chinesische Frauen – die Chance nutzen, zu Wort zu kommen und über ihr persönliches Leben berichten. Xinran versuchte, das Vertrauen der Frauen zu gewinnen, indem sie anhand ihrer eigenen Erfahrungen Hilfe und Ratschläge für sie anbot, um die Schwierigkeiten des alltäglichen Lebens meistern zu können.

Nach ihrer Tätigkeit als Radiojournalistin in den 1980er und 1990er Jahren, emigrierte Xinran Xue 1997 nach Großbritannien und  lebt seitdem zusammen mit ihrem Mann und ihrem Sohn in London. Dort entstand auf der Basis ihrer Rundfunksendungen ihr erstes Buch „Verborgene Stimmen. Chinesische Frauen erzählen ihr Schicksal“, welches in 27 verschiedene Sprachen übersetzt wurde und international ein großer Erfolg war. Es folgten bis heute die ebenfalls erfolgreichen Romane “Himmelsbegräbnis – Die Geschichte einer wahren Liebe” und “Die namenlosen Töchter” sowie drei weitere Veröffentlichungen.

Inzwischen arbeitet Xinran regelmäßig für „The Guardian“ und setzt sich für Frauen und Waisenkinder ein. Somit gründete sie unter anderem die Wohltätigkeitsorganisation “The Mothers’ Bridge of Love”. Hierbei handelt es sich um eine Organisation, die sich um chinesische Kinder – vor allem im Zuge der chinesischen Ein-Kind-Politik verstoßene Mädchen – kümmert, die von westlichen Pflegeeltern adoptiert wurden.

Motivation:

Während meiner bisherigen Vorbereitungen für den Auslandsaufenthalt in Beijing legte ich mir unter anderem einen Reiseführer für China zu, um mich genauer mit potenziellen Zielorten auseinander setzen zu können. Der Abschnitt über die Region Tibet, dessen Hochland sich auf eine durchschnittliche Höhe von 4500 Metern erstreckt und auch als “Dach der Welt” bezeichnet wird, weckte meine Neugierde und veranlasste mich dazu, mehr über diesen Ort in Zentralasien in Erkenntnis bringen zu wollen. Auf mehreren Seiten wurden die überwältigenden Hochlandpanoramen, die riesigen Klosteranlagen sowie die bewundernswerte buddhistische Kultur, die nach mehreren Jahrzehnten der Unterdrückung Chinas immer noch lebendig geblieben ist, beschrieben.

Ich hatte zwar nebenbei einige politische Spannungen der letzten Jahren mitbekommen und wusste auch, dass die Reisebestimmungen für Ausländer hier weitaus strenger sind als im Rest des Landes. Nichtsdestotrotz wollte ich mehr über die Vergangenheit des Autonomen Gebiets Tibet (AGT) erfahren und verstehen, wie es zu den immer noch anhaltenden Konflikten zwischen Tibetern und Chinesen kommen konnte. Zudem schien es mir angemessen, mich nicht nur in einem Sachbuch darüber zu informieren, da meiner Meinung nach persönliche Erfahrungen und Erlebnisse von Menschen einen stärkeren Ausdruck verleihen.

Aus diesem Grund habe ich mich bei meiner Suche nach einem geeigneten Buch größtenteils auf historische, chinesische Romane konzentriert und bin sehr schnell auf die Autorin Xinran Xue und ihrem äußerst positiv bewerteten Roman “Himmelsbegräbnis – Die Geschichte einer großen Liebe” aufmerksam geworden. Durch verschiedene Leserrezensionen erfuhr ich, dass dieser Roman nicht nur eine geheimnisvolle und sehr bewegende Liebesgeschichte thematisiert, sondern auch einen guten Einblick in die tiefe Vergangenheit Chinas mit all den kulturellen Unterschieden und Mißverständnissen sowie der kriegerischen Besatzung Tibets durch die Volksrepublik China liefert. Aufgrund der außergewöhnlichen Verknüpfung dieser beiden Aspekte in einem spannenden Roman entschied ich mich für das Buch.

Inhalt:

Das Buch ist insgesamt in neun Kapitel unterteilt. Im Vorwort erklärt Xinran zunächst, wie einer ihrer aufmerksamen Hörer sie im Jahr 1994 aus Suzhou mitteilt, dass er auf der Straße eine merkwürdige Frau kennengelernt hat, die gerade erst aus Tibet zurückgekehrt ist. Sie beschließt daraufhin, die Frau namens Shu Wen zu treffen und hört sich ihre Lebens- und Liebesgeschichte an. Sehr bewegt von dem Schicksal der Frau wurde Xinran schnell klar, dass sie soeben einer der außergewöhnlichsten Frauen begegnet war, die sie ihn ihrem Leben wohl treffen würde und sie beschloss, ihre Geschichte noch vielen anderen Menschen mitzuteilen. Die Autorin bereut jedoch zutiefst, Shu Wen nach nur einem Treffen nie wieder gesehen zu haben um genauere Details von ihrer Geschichte zu erfahren. Aus diesem Grund schrieb sie dieses Buch mit dem tiefen inneren Wunsch, eines Tages die vollständige Wahrheit über ihr berührendes Schicksal in Erfahrung zu bringen.

(1) Shu Wen:

Im Jahr 1949 lernte die junge Studentin Shu Wen ihren Kommilitonen Kejun an der Universität kennen, weil sie für ihr Studium zur Ärztin zufälligerweise an einem Sezierkurs teilnehmen muss, in dem dieser als Laborassistent tätig ist. Die beiden verlieben sich ineinander und heiraten schließlich im Jahr 1958, als sie das Studium beendet haben und fertig ausgebildete Ärzte sind. Doch drei Wochen nach ihrer gemeinsamen Heirat wird Kejun durch die chinesische Armee dazu verpflichtet, diese ins benachbarte Tibet zu begleiten, um sie im Rahmen der chinesischen Okkupation als Arzt beizustehen. Nicht einmal 100 Tage nach ihrer Eheschließung erhält Shu Wen auf einmal die erschreckende Nachricht, dass ihr Mann in Tibet gestorben ist. Spezifische Informationen bezüglich seiner Todesursache oder dem Ort der Bestattung gehen aus der Nachricht jedoch nicht hervor.

(2) Ich kann ihn nicht alleine in Tibet lassen:

Voller Frustration und in dem Glauben, dass man ihr aufgrund der knappen Schilderung von Kejuns Tod wichtige Informationen verheimlicht hat und er eventuell sogar noch leben könnte, beschließt sie sich selbst als Ärztin in der Armee einschreiben zu lassen und macht sich auf den Weg in das fremde unbekannte Tibet in der Hoffnung irgendwann ihren Mann wiederzufinden. Obwohl die eigene Familie sowie Militäroffiziere ihr versuchen, den Gedanken auszutreiben, steigt sie kurze Zeit später mit unterschiedlichen Erinnerungsstücken an ihre Familie in Suzhou in einen Bus zum nächsten Stützpunkt des Militärs wo sie auf den Offizier Wang Liang traf. Nach einem kurzen Gespräch mit ihm erhält sie unter anderem ein kleines Büchlein mit militärischen Informationen von ihm sowie ein Tagebuch mit einem Kugelschreiber, in der sie ihre Erlebnisse festhalten soll. Wen hatte nicht einmal eine Stunde in Wang Liangs Gesellschaft verbracht, aber seine weisen Worte und Ratschläge sollten sie ihr ganzes Leben lang begleiten. In einem riesigen Konvoi aus mehreren Dutzend Armeelastwagen macht sie sich mit annähernd 1000 Mann auf der berühmten Sichuan-Tibet-Straße auf den Weg. Eines Tages entdecken die Männer in der Ferne eine kaum wieder zu erkennende Gestalt.

(3) Zhuoma:

Es stellt sich heraus, dass es sich hierbei um die Tibeterin Zhuoma handelt. Als diese wieder zu Kräften gekommen ist, berichtet sie Shu Wen und dem Kompaniechef von ihrem erstaunlichen Schicksal. Denn das Buch ist nicht nur eine Geschichte von Shu Wen, sondern auch von Zhuoma, einer tibetischen Landadligen, die sich in ihren Diener Tiananmen verliebt und daraufhin ihre Familie und ihren Besitz verliert. In einer kalten, stürmischen Nacht hörte sie ihn plötzlich schreien, verlor ihn aus den Augen und stürzte bei der Suche nach ihm in eine felsige Schlucht. Kurze Zeit später wurde sie von Wen und den Soldaten gefunden. Einige Tage später trifft der Konvoi auf eine tibetische Truppe, die sie aufgrund der grausamen Handlungen der chinesischen Volksbefreiungsarmee allesamt umbringen will. Letztendlich können der Kompaniechef und Zhuoma einen Deal aushandeln, bei dem die chinesischen Truppen zurückkehren, einige die Tibeter jedoch als Geiseln begleiten sollen – darunter auch Zhuoma und Wen. Als sie sich auf die Reise mit den Tibetern machen, werden sie eines Tages von einer chinesischen Armee angegriffen und von der Truppe getrennt. Auf ihrer Flucht stürzt ihr Pferd einen hohen Abhang herunter.

(4) Eine tibetische Familie:

Alles in allem spielt sich die Reise von Wen in einem Zeitraum von etwa 30 Jahren ab. Viele Jahre, die geprägt sind von Entbehrungen und Einsamkeit und in denen die Chinesin die eigentliche Seele Tibets kennen lernt, immer wieder neue Hoffnung schöpft und sich sowohl innerlich als auch äußerlich enorm verändert. Der Leser erfährt in dem Roman einiges über das Alltagsleben der Tibeter, da Wen und Zhuoma im Verlauf der Handlung von einer Nomadenfamilie aufgenommen werden. In der Zeit, die sie bei der Familie verbringt, staunt die Frau jedes mal aufs Neue über die ruhige Gelassenheit, Selbstverständlichkeit und auch Selbstlosigkeit der tibetischen Menschen, deren Charakterzüge stark von ihren Vorstellungen abweichen. Häufig werden die spirituellen Sitten und Gebräuche sowie die Unterschiede der einzelnen tibetischen Völker untereinander aufgezeigt. Wen erlebt dabei nicht nur die Freuden, sondern auch das Leid in der Nomadenfamilie und ihr Weltbild wird gehörig auf den Kopf gestellt. Die Männer erledigen beispielsweise die Näharbeiten und die tibetischen Frauen dürfen durchaus mit mehr als einem Mann gleichzeitig verheiratet sein.

(5) Verschollen in Qinghai:

Eines Tages wird Zhuoma von einer Gruppe von Männern auf Pferden entführt und für Shu Wen beginnt die dunkelste und härteste Zeit ihres Lebens. Mit den Jahren verliert sie den Ãœberblick über die Zeit und jeder Ort an dem sie sich aufhält scheint für sie gleich. Nach weiteren verstrichenen Jahren passen sich ihr Körper und ihre Seele immer stärker der tibetischen Lebensweise an und sie lernt sogar Grundzüge ihrer Sprache. Irgendwann beschließt Ge’er, der Anführer der Nomadenfamilie, sich zusammen mit seiner Tochter Pad und Wen auf die Suche nach Zhuoma und Kejun zu begeben und die drei verlassen den Stamm. Auf ihrem Weg lernen sie während eines Aufenthalts in einer anderen tibetischen Familie den jungen Mann Zawang kennen, mit dem sie zum Kloster Wendugongba reiten wo er seinen ältere Bruder besuchen möchte.

(6) Die dreizehn heiligen Berge:

Dort angekommen hört sich Shu Wen in dem Kloster nach Zhuoma und Kejun um und plötzlich erklärt ihr ein fremder Mann, dass er auf der Suche nach einer Frau namens Zhuoma ist, die er damals in einem schweren Sturm verloren habe. Es stellt sich heraus, dass dieser Mann der Diener und Geliebte von Zhuoma, also Tiananmen ist. Die Gruppe trennt sich daraufhin erneut: Ge’er will seine Tochter Pad und ihren Geliebten Zawang, die auf ihrem langen Weg ins Kloster inzwischen geheiratet haben, bei einer nahe liegenden Nomadenfamilie unterbringen. Zhuoma und Tiananmen hingegen begeben sich in Richtung der dreizehn heiligen Berge, da die Tibeter laut einem Gerücht wohl das, was sie verloren haben, immer auf den heiligen Bergen wieder finden. Hier würden sich nämlich unzählige Pyramiden von sogenannten Mani-Steinen befinden, in die das Mani-Mantra, Teile von buddhistischen Texten sowie Nachrichten von Reisenden eingraviert sind, die über Tausende von Jahren erhalten bleiben. Auf einem Stein steht plötzlich die Nachricht “Zhuoma sucht nach Tiananmen. Sie erwartet ihn auf dem nächsten Berg in der Nähe der Hütte des Steinschneiders.”. Dort angekommen treffen die beiden tatsächlich Zhuoma und ein langersehntes Wiedersehen findet endlich statt.

(7) Der alte Eremit Qiangba:

Wiedervereint reiten Wen, Zhuoma und Tiananmen gen Süden zum Zhaling-See und hören dort vom den alten Eremiten Qiangba, der angeblich eine mysteriöse Geschichte kennen soll, in der vor vielen Jahren ein chinesischer Arzt eine sogenannte Vogelbestattung (Himmelsbegräbnis) erhalten haben soll und dass dadurch die Kämpfe zwischen den Tibetern und den Chinesen beendet wurden. Dies ist ein Bestattungsritual, bei dem der tote Leichnahm nicht begraben oder verbrannt, sondern unter freiem Himmel gänzlich von Geiern aufgefressen wird. Im Tibet gelten die Geier als heilige Tiere und diese Art der Bestattung als eine heilige Zeremonie. Die Tibeter glauben nämlich, dass die Toten auf diese Weise in den heiligen Kreislauf der übermächtigen Natur zurückkehren, wenn sie den Vögeln als Mahlzeit dienen. Nachdem die drei den Eremiten gefunden haben, überreicht dieser ihnen ein beschriftetes Bündel, weil es an eine chinesische Frau aus Suzhou namens Shu Wen gerichtet ist.

(8) Die Vogelbestattung – ein Himmelsbegräbnis:

Mithilfe dieses Bündels erzählt der Eremit Qiangba Wen die Geschichte vom Tod ihres Mannes Kejun. Dieser stieß damals mit seinen Soldaten auf eine riesige Vogelbegrabungsstätte, bei der eine ganze Schar von Geiern fressend auf einem riesigen Haufen blutüberströmter Leichen saß. Einer der Totgeglaubten war jedoch noch am Leben. Kejun wurde von seinem Verantwortungsgefühl gepackt und erschoss einen der Raubvögel, sodass alle anderen Geier in der Luft verschwanden und die vielen Tibeter Kejun verärgert anstarrten, da dieser ihr Bestattungsritual somit unterbrochen und verletzt hatte. Aus lauter Angst vor der Rache der tibetischen Truppen sah Kejun seinen Selbstmord und somit die eigene Opfergabe als einzigen Lösungsweg, dass wieder Frieden einkehren könnte. Nach einer Rede über die Gleichheit aller Chinesen und Tibeter und der Bitte an diese, ihn nach dem Selbstmord mit dem Messer zu zerstückeln und selbst an die Geier zu verfüttern erhob er die Waffe und schoss sich eine Kugel in den Kopf. Das tibetische Volk zollte dieser Aktion größten Respekt und im Anschluss daran gab es in dieser Region keine Kämpfe mehr zwischen Tibetern und Chinesen.

(9) Der Weg nach Hause:

Nach der Enthüllung des Todes ihres Mannes beschließen Shu Wen, Zhuoma und Tiananmen sich noch einmal auf den Weg nach Beijing zu machen. Zhuoma will nach all der Zeit zurück in die Stadt, in der sie damals als Kind bereits für einige Jahre gelebt hat und Wen hat das Bedürfnis, ihre Familie endlich wiederzusehen. Sie reiten nach Lhasa und erhalten dort nach mehreren Absprachen die Genehmigung , mit einem Flugzeug in die mittlerweile moderne Hauptstadt zu fliegen. Dort angekommen fährt Wen weiter nach Suzhou um ihre Familie endlich wieder gegenüber stehen zu können. Als sie jedoch vor ihrem alten Elternhaus steht, muss sie mit Entsetzen feststellen, dass die Wohngegend bereits mehrere Male abgerissen, wieder neu errichtet wurde und ihre Heimatstadt sowie das gesamte Land China sich in einem enormen Wandlungsprozess befindet. Ihre Eltern und ihre Schwester haben ihr keine Spur hinterlassen. Was mit ihnen passiert ist und ob sie erneut die Kraft schöpfen kann, sich in ihrem hohen Alter ein zweites Mal auf eine lange Suche zu begeben, bleibt am Ende der Geschichte offen. Aber Eins ist klar – Die lebenslange Suche nach ihrem Geliebten Kejun hatte nach all den Jahren ein Ende genommen und kein anderer Chinese hatte jemals einen so großen positiven Einfluss auf die Beziehung der Chinesen zu den Tibetern ausgeübt wie er.

Fazit:

Abschließend kann ich voller Zuversicht sagen, dass ich das Buch uneingeschränkt weiterempfehlen würde. Die gelungenen Eigenschaften des Buches müssen in dieser Hinsicht jedoch auf zwei unterschiedlichen Ebenen betrachtet werden. Auf der einen Seite versucht die Autorin und ehemalige Radiomoderatorin Xinran die wundervolle und einzigartige Liebes- bzw. Lebensgeschichte ihrer Hörerin Shu Wen nachzuerzählen. Ihr Roman ist neben den zahlreichen erstaunlichen Eindrücken, die Wen auf ihrer 30-jährigen Reise quer durch Tibet erlebt, von einer unübersehbaren und immerwährenden Traurigkeit geprägt. Obwohl das Buch lediglich aus 176 Seiten besteht, gelingt es der Autorin geschickt, gewisse Szenarien detailliert zu erläutern wie beispielsweise die religiösen Rituale der Tibeter oder die Gefühle von Wen und an anderen Stellen im Buch enorme Zeitsprünge innerhalb weniger Seiten durchzuführen. Der Roman schildert sehr stark die Emotionen und Gefühle der Chinesin über mehrere Jahre hinweg, die auf ihrer unermüdlichen Suche nach ihrer nie in Vergessenheit geratenen großen Liebe zu keinem Zeitpunkt im Buch die grenzenlose Hoffnung an ihren Mann verliert. Xinran hat die emotionale Geschichte von Shu Wen mit großem Einfühlungsvermögen nachempfunden und greift immer wieder verschiedene Aspekte wie den Glauben und die Sehnsucht an die eine wahre Liebe sowie die völlige Hingabe und Opferbereitschaft für die Mitmenschen auf.

Auf der anderen Seite steckt jedoch noch viel mehr als eine spannende und traurige Liebesgeschichte hinter dem Roman. Die Autorin Xinran gibt in ihren Büchern stets einen Einblick in verschiedenste Aspekte des Lebens in China – so auch in diesem Buch. Vor dem Hintergrund der angespannten Lage zwischen Tibet und China wird die Entwicklung des heutzutage immer noch währenden Konflikts der beiden Gebiete zwischen den 1950er und 1980er beschrieben. Auf ihrer abenteuerlichen Reise durch die Region Tibet lernt Shu Wen die größtenteils hilfsbereiten Menschen dort sehr genau kennen und dem Leser wird andauernd das harte tibetische Alltagsleben mit seinen Gebräuchen vor Augen geführt. Immer und immer wieder veranschaulicht Xinran den damaligen politischen Hintergrund und die Beziehungen der Tibeter und Chinesen zueinander. Ãœberwiegend aus chinesischer Sicht erläutert die Autorin die zu dem Zeitpunkt vorherrschende enorme Kluft zwischen Tibet und China, die von den kulturellen Unterschieden und Missverständnissen sowie der ständig andauernden kriegerischen Besatzung Tibets durch die Chinesen – vor allem im Jahr 1959 durch die Volksbefreiungsarmee – geprägt ist. Da das Buch eine Zeitspanne von über 30 Jahren umfasst, wird zudem die Entwicklung der einzelnen Länder an sich und der Verlauf ihrer Beziehung zueinander aufgegriffen. Als Shu Wen am Ende in ihre Heimat zurückkehrt, hat sich das moderne China so stark verändert, dass sie es selbst nicht mehr wiedererkennt.


Geschichtlicher Hintergrund:

Im Jahr 1910 marschierte China in Tibet ein und stürzte die Regierung. Die daraus entstandene Revolution in Tibet sorgte für den Fall der Qing-Dynastie im Jahr 1911. Ab diesem Ereignis begann für Tibet eine Phase der faktischen Unabhängigkeit, die bis 1950 andauerte. Zu langfristigen Kriegspausen und einer Abnahme der Aufstände kam es in diesen Jahrzehnten jedoch nicht, sodass der Kampf um Tibet fortlaufend weiter ging und kein Frieden in Sicht war. Im Anschluss an die Machtübernahme der Kommunistischen Partei und der Gründung der Volksrepublik China unter Führung von Mao Zedong im Oktober 1949 wurde der Anspruch auf Tibet jedoch erneut geweckt. In der Folge fiel das wiedererstarkte kommunistische China erneut in Tibet ein mit der Begründung, es wolle die mehr als eine Million Tibeter aus der feudalen Knechtschaft befreien und zurück in den Schoß des Vaterlandes führen. Nach diversen Verhandlungen mit China unterschrieben Repräsentanten der tibetischen Regierung am 23. Mai 1951 in Peking unter enormen politischen Druck sogar das sogenannte 17-Punkte-Abkommen. In diesem Abkommen wurde die Eingliederung Tibets in die Volksrepublik China festgelegt, Tibet hingegen wurden verschiedene Rechte wie die freie Religionsausübung zugesichert.

In den darauffolgenden Jahren kam es jedoch immer wieder zu zunehmenden Unruhen. Die Lage spitzte sich letztendlich im Jahr 1959 in einem regelrechten Aufstand zu, bei der die chinesische Volksbefreiungsarmee (VBA) ca. 87000 Tibeter niederschlug. Der Dalai Lama floh im Anschluss daran aus Tibet heraus nach Indien und gründete dort mit anderen Tibetern eine Exilregierung. Im Jahr 1965 wurde Tibet offiziell der Status einer Autonomen Region der Volksrepublik China eingeräumt. Heutzutage hat sich der Dalai Lama, der Chinas Migrationspolitik als “kulturellen Völkermord” bezeichnet, damit abgefunden, eher Autonomie als Unabhängigkeit anzustreben und im Jahr 1989 für seinen unermüdlichen Einsatz für eine gewaltfreie Lösung des Problems obendrein den Friedensnobelpreis erhalten.

In der Gegenwart herrschen immer noch große Missverständnisse zwischen den Chinesen und den Tibetern. Auf der einen Seite meinen die Chinesen, dass Tibet bis zum Jahr 1950 ein von extremer Armut und feudaler Ausbeutung geprägtes Land war und erst durch ihre Hilfe eine bessere Lebenssituation erhielten, z.B. durch neue Schulen, Krankenhäuser, Flughäfen oder steigendem Einkommen. Auf der anderen Seite hingegen können viele Tibeter den Chinesen nicht die blutige Massenermordung verzeihen sowie die Tatsache, dass diese sie in den 1950er und 1960er durch zahlreiche Kloster- und Schreinvernichtungen in ihrer Religion einschränkten. Außerdem sind die Chinesen ununterbrochen mit einem großen Militärangebot präsent und die Tibeter sind der Meinung, dass diese ihr Land wirtschaftlich ausbeuten und fühlen sich somit zu Menschen zweiter Klasse degradiert.

Heute ist die Lage in der Region Tibet weiterhin extrem angespannt. In den Jahren 1987 und 1989 kam es in Lhasa wieder einmal zu starken Aufständen und der damit verbundenen Ausrufung von Ausnahmezuständen. Weitere Unruhen im Jahr 2008 führten zu Straßenschlachten und die Proteste weiteten sich auf weitere tibetische Gebiete wie Gansu, Sichuan und Qinghai aus. Die wachsende Verzweiflung vieler Tibeter führte zu einer Welle von Selbstverbrennungsaktionen im Jahr 2012. Die chinesische Polizei- und Militärpräsenz in Tibet heutzutage ist enorm, sodass die Bevölkerung unter ständiger Kontrolle steht und stark unterdrückt wird. Mit chinesischer Zuwanderung und ständiger aggressiver Modernisierung versucht die chinesische Regierung, die religiösen und politischen Bestrebungen der Tibeter in den Hintergrund zu stellen und den Fokus auf die wirtschaftlichen Fortschritte zu legen. Diese Strategie war bislang in anderen Teilen Chinas teilweise erfolgreich, ob es jedoch auch in Tibet funktionieren wird, muss weiterhin abgewartet werden. Insgesamt sind bisher mehr als 1 Million Tibeter dem Freiheitskampf zum Opfer gefallen und es ist immer noch kein Ende des Konfliktes in erreichbarer Ferne.


 

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One Response to Buchrezension “Himmelsbegräbnis – Die Geschichte einer großen Liebe” von Florian Ikemeyer

  1. Ünzile Gürsoy says:

    Hallo Florian,

    Vielen Dank für deine Buchrezension. Bei dem Roman “Himmelsbegräbnis – Die Geschichte einer großen Liebe” klingt schon der Titel sehr ansprechend. Als ich dann das Profil der Autorin durchgelesen habe, hat dieses noch mehr mein Interesse erweckt. Wie die Autorin in der Rundfunksendung „Qin Feng Ye Hua“ – „Worte im Abendwind“ Chinesische Frauen zu Wort kommen lassen hat finde ich wirklich sehr vorbildhaft. Der Roman erzählt eine wirklich sehr rührende Liebesgeschichte. Im Hintergrund dieser Geschichte spiegelt der Roman hauptsächlich die Spannungsbeziehung zwischen Tibet und China wieder. Man bekommt einen Blick auf diesen Konflikt aus Sicht einer Chinesischen Protagonistin. Auch wenn die Handlung sich hauptsächlich in Tibet abspielt und man viel über die Tibetische Kultur und Lebensweise erfährt, ist es die Sicht einer Chinesin deshalb finde ich den Roman passend zum Thema China. Das Buch umfasst eine Zeitspanne von 30 Jahren, in der sich vieles verändert, aber die Konfliktbeziehung zwischen China und Tibet sich nicht endgültig bessert. Dieser Hintergrund der Geschichte ist wirklich traurig. Auch sehr traurig ist das Ende der Liebesgeschichte. Am Ende des Romanes muss die Protagonistin feststellen, dass die Suche nach ihrem Geliebten in Tibet vergebens war. Diese rührende und traurige Geschichte hast du wirklich sehr anschaulich wiedergegeben Danke dafür. Was ich auch sehr schön an deiner Rezension finde ist, dass du zur Veranschaulichung den geschichtlich politischen Hintergrund der Beziehung zwischen China und Tibet beschrieben hast. Im großen und ganzen eine sehr gelungene Arbeit.

    Liebe Grüße,
    Ãœnzile

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