Buchrezension zum Roman “Der Gourmet: Leben und Leidenschaft eines chinesischen Feinschmeckers” von Christian Schräder

Titel: Der Gourmet: Leben und Leidenschaft eines chinesischen Feinschmeckers
Autor: Lu Wenfu
Taschenbuch: 192 Seiten
Verlag: Diogenes
Erscheinungsdatum: Juli 2005
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 325722785X

 

Motivation

Die persönliche Motivation lag darin, einen Themenbereich abzudecken, der im Rahmen des alltäglichen Lebens in China eine hohe Bedeutung hat. Neben meinem Interesse an kulinarischen Spezialitäten, esse ich allgemein für mein Leben gern und habe demnach einen Roman gesucht, der Einblicke in die chinesische Kochkunst gibt. „Der Gourmet“ wurde mir schließlich persönlich empfohlen, mit der Aussage, dass dieses Buch ziemlich sicher meinen Erwartungen entsprechen würde. Ich habe mich von dieser Einzelempfehlung einnehmen lassen, da sie von einer promovierten Sinologin stammte, die schließlich schon hunderte chinesische Bücher gelesen haben muss. Nach dem Lesen dieses Buches frage ich mich ernsthaft, ob die Dame wusste, dass das Essen in diesem Buch nur eine zweitrangige Rolle spielt und eigentlich nur wollte, dass ich mich mit der chinesischen Geschichte auseinandersetze.

Autor

Im Jahre 1944 mit seiner Familie nach Suzhou umgezogen, ging Lu Wenfu als Soldat der kommunistischen Befreiungsbewegung an die Front. Bei seiner Ankunft dort war der Bürgerkrieg jedoch schon beendet.

Lu Wenfu arbeitete zunächst als Lokalreporter bei der Neuen Zeitung von Suzhou, wo er die Fortschritte der jungen sozialistischen Volksrepublik China, die am 1. Oktober 1949 gegründet wurde, pries. Seit 1953 begann er, sich auch literarisch zu betätigen und erregte 1956 mit einer Kurzgeschichte Aufsehen. Mit den Mitgliedern einer neu gegründeten Schriftstellergruppe versuchte er, angeregt durch die Hundert-Blumen-Bewegung, eine kritische Zeitschrift zu gründen, die jedoch durch die “Anti-Rechts-Kampagne” am Erscheinen gehindert wurde; er selbst wurde als Intellektueller und “parteifeindliches Element” zur Umerziehung in eine Maschinenfabrik geschickt.

Ab 1960 durfte er wieder seinem Beruf als Schriftsteller nachgehen; in seinen Erzählungen schilderte er die Arbeitswelt ohne Beschönigung, wurde deswegen während der Kulturrevolution erneut kritisiert und 1965 als Mechaniker in eine Weberei versetzt. 1969 schickte man ihn mit seiner Familie schließlich zur Umerziehung in ein entlegenes Dorf.

1976  begann er wieder zu schreiben und gehörte dreimal zu den Preisträgern im nationalen Wettbewerb um die besten Erzählungen des Jahres. 1978 durfte er nach seiner Rehabilitierung nach Suzhou zurückkehren. Fortan setzte er sich kritisch mit der Geschichte der Volksrepublik auseinander veröffentlichte diesbezügliche mehrere Werke. Er starb im Jahr 2005.

Inhalt

Die Geschichte um den personalen Erzähler Gao Xiaoting und seines verhassten und entfernt verwandten Mitstreiters Zhu Ziye beginnt unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg im östlichen Suzhou. Zhu, der von seinen geerbten Häusern und deren Mieteinnahmen leben kann, verwendet nahezu den ganzen Tag für die Aufnahme kulinarischer Köstlichkeiten. Gearbeitet hat er noch nie. Sehr zum Unmut von Gao, der eher aus ärmlicheren Verhältnissen stammt, die Fresssucht scharf verurteilt und sich in Bescheidenheit, Demut und Zurückhaltung übt. Als Zhu Gaos Mutter bittet, ihren Jungen gegen Almosen zum Botenjungen für Delikatessen einzustellen, wird es Gao nach einigen Dienstmonaten zu viel: Er verlässt Suzhou um sich der kommunistischen Partei im Kampf gegen die Nationale Volkspartei anzuschließen. Postwendend wird Gao jedoch als Funktionär wieder zurück nach Suzhou geschickt um dort die Leitung eines hoch angesehenen Lokals zu übernehmen, in dem auch Zhu vorrangig seine Mahlzeiten einzunehmen pflegt.

Den politischen Vorgaben entsprechend, vorrangig aber aus eigener Motivation, gestaltet Gao das Sternerestaurant in einen Massenbetrieb um, der einfache, durchschnittliche Speisen anbietet und die Gäste zum eigenen Abwasch einlädt. Zhu hingegen ist zu dieser Zeit kaum in den Restaurants zu sehen und bildet auf der Suche nach seinem alten Lebensstil eine Lebensgemeinschaft mit einer Dame von höherem Stand, die eine hervorragende Köchin ist und ihn bis ans Lebensende versorgen wird. Das Restaurant boomt anfangs und läuft dann von Jahr zu Jahr schlechter. Nach der großen Hungersnot zwischen 1958 und 1961, überdenkt Gao die eigene Haltung und kommt zum Schluss, dass Angeboten werden soll, was die Menschen fordern wenn es ihnen gut geht: Qualität. Nach einer optischen und kulinarischen Verbesserung der Lokalität wird ihm diese Einstellung während der Kulturrevolution zum Verhängnis. Ausgerechnet sein ehemaliger Fürsprecher und Kellner  Bao Kunnian denunziert ihn als Kapitalistenfreund. Gemeinsam mit dem als „Blutsauger“ titulierten Zhu wird er öffentlich zur Selbstkritik genötigt, geschlagen und misshandelt. Der feige Zhu gesteht alle auferlegten Anschuldigungen, während Gao durch sein Schweigen für neun Jahre aus Suzhou verbannt wird und auf dem Land über sein vermeintlich falsches Handeln nachdenken darf.

Nach seiner Rückkehr scheint Suzhou verwandelt: Geteerte Straßen, Menschenmassen und vor allem Tourismus, soweit das Auge reicht. Paradoxerweise wird er wieder als Geschäftsführer des Restaurants eingestellt und bedient die wohlständischen Kunden. Um die, nun auch politisch gewollte Qualität der Restaurants zu verbessern, lädt Gao wichtige Persönlichkeiten der chinesischen Küche ein, die ihrerseits Vorträge über gutes Essen halten. Dazu gehört auch Zhu, der wider Willen eingeladen wird und mit der Hilfe des Kellners Bao den Grundstein für eine Eindrucksvolle Karriere als kulinarischer Berater, oder besser gesagt, „Gourmet“ legt.

Hintergrund

Lu Wenfu gibt hier in eindrucksvoller Weise einen Abriss über die Geschichte Chinas seit der Übernahme der kommunistischen Partei im Jahre 1949. Angefangen mit dem wirtschaftlichen Aufstieg und der politischen Umstrukturierung, durchläuft der junge Gao auch die große Hungersnot während des „großen Sprunges nach vorn“ und wird Opfer der Massenkampange „Kulturrevolution“ die, beginnend im Jahre 1966, zehn Jahre dauern sollte.

Getrieben vom kommunistischen Ideal, scheint die Hauptfigur Gao Xiaoting wie eine Marionette, die gerade durch ihre Prinzipientreue immer wieder zum Opfer der systemunterlaufenden Opportunisten wird. Beispielhaft wird ihm das Nachkommen nach besserer Essens- und Servicequalität zum Verhängnis obwohl es von den Gästen lautstark gefordert wurde. Weiterhin verhilft dem faulen Zhu ungewollt zum späten Karrieresprung als wissenschaftlicher Feinschmecker und verhöhnt diesen, wie im ganzen Buch im Stillen:

„Jetzt hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass jede Art Wissenschaft besser ist als Ignoranz und Inkompetenz. Unterstützte man die Wissenschaft, konnte man also nichts falsch machen. Eine akademische Frage kann man immer diskutieren, selbst wenn man damit ganz schiefliegt, und je mehr man diskutiert, desto bekannter wird man selbst.“

Dieser letzte Akt ist ein eindrucksvolles Beispiel für den Kampf, den Gao konstant für den Kommunismus und seine eigenen Ideale, aber lediglich in stillen Gedankengängen gegen die opportunistisch, kapitalistischen Kräfte bestritten hat. Letztere existieren unterschwellig in einer Schattenform des bestehenden Systems und holen Gao immer wieder ein. Wenfu impliziert damit, dass sich der Gleichheitsgedanke bei unterschiedlichen Bedürfnissen und gescheitertem Klassenkampf schwer realisieren lässt. Anhand des sich hervorragend eignenden Beispiels der Nahrung manifestiert er diese unterschiedlichen menschlichen Bedürfnisse, die sich aus persönlichen Einstellungen sowie externen Faktoren wie Geld und Macht zusammensetzen und letztendlich eine unkontrollierbare Variable für den kommunistischen Grundsatz darstellen. Gleichzeitig wird das Essen als Stimmungsbarometer für die gesellschaftlichen Entwicklungen und das Wohlergehen Chinas verwendet:

„Oh ihr verfressenen Menschen! Solange ihr arm seid, würdet ihr am liebsten die Luxusrestaurants abreißen, sobald ihr aber ein bißchen Geld in der Tasche habt, drängt ihr euch in eben diese Lokale, und eure einzige Sorge ist, keinen Sitzplatz abzukriegen oder keine erstklassigen Speisen vorgesetzt zu bekommen.“

Lu Wenfus ironischer Schreibstil sorgt für Unterhaltung und dennoch ist dieses Buch keineswegs kurzweilig für den kritischen Leser, der die Botschaften hinter der kulinarischen Fassade erkennt um die es im eigentlichen Sinne geht. Wer  eher auf der Suche nach einem Speiseführer im literarischen Stil ist, dem sei von diesem Buch abgeraten.

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