Buchrezension: Die große Heimkehr

Buchdetails

51PAphVtr5L._SX299_BO1,204,203,200_Titel: Die große Heimkehr
Autorin: Anna Kim
Erscheinungsjahr: 2017
Sprache: Deutsch
Umfang: 558 Seiten
Verlag: Suhrkamp
ISBN: 978-3-518-42545-9
Preis: 24,00€

Autorin
Anna Kim wurde am 10. September 1977 in Daejeon, heute eine der größten Metropolen Südkoreas, geboren. Ihre Eltern verließen das Land 1979, um ihrer akademischen Karriere in Deutschland und Österreich nachzugehen, sodass sie im Jahr 1984 nach Wien zogen. Hier besuchte Anna Kim die Schule und begann ab 1995 ein Studium der Theaterwissenschaft und Philosophie an der Universität Wien. Dies schloss sie im Jahr 2000 erfolgreich mit dem Magistergrad ab und lebte für zwei Jahre in London und Cambridge, bevor sie nach Wien zurückkehrte.
Bereits seit 1999 veröffentlicht sie ihre Arbeiten in verschiedenen Literaturzeitschriften und ist seit 2000 Mitglied der Grazer Autorenversammlung. Im Jahr 2004 erhielt sie ein Wiener Autorenstipendium und veröffentlichte im selben Jahr ihren ersten Roman mit dem Titel „Die Bilderspur“. In den letzten Jahren erhielt sie mehrfach Auszeichnungen für ihre Werke und zählt heute zu einer der erfolgreichsten heimischen Gegenwartsautorinnen.

Motivation
Hinsichtlich der Auswahl meines Buches war es mir sehr wichtig, ein Buch zu wählen, das den geschichtlichen Hintergrund Koreas und die Entstehung von Süd- und Nordkorea thematisiert. Für die Teilung der koreanischen Halbinsel interessiere ich mich schon seit längerem und die Entscheidung, ein Auslandssemester in Seoul zu machen, hat meinen Wunsch nach geschichtlicher Aufklärung verstärkt. Aufgrund der spannenden Beschreibung des Buches und der beachtlichen Biografie von Anna Kim sowie sehr positiven Resonanzen zu ihr und ihren Werken, entschied ich mich für „Die große Heimkehr“. Als besonders reizvoll empfand ich, dass es sich hierbei um einen Roman handelt, der Historie und damalige Politik anhand einer wahrheitsgetreuen aber fiktiven, dramatischen Geschichte von drei Hauptcharakteren vermittelt.

Aufbau des Buches
Das Buch besteht aus insgesamt neunzehn Kapiteln, die auf nahe 600 Seiten niedergeschrieben sind. In dessen ersten Hälfte werden hauptsächlich der Hintergrund der fiktiven Handlung sowie die Konstellation der drei Hauptcharaktere erläutert, deren Beziehung eine Art roten Faden für den Roman bildet.
Dabei wird die tatsächliche politische Situation im damaligen Korea durchgehend dokumentarähnlich vermittelt. Die Bedeutung der eigentlichen Handlung und deren Einordnung in den komplexen, historischen Gesamtkontext erschließt sich dem Leser erst nach und nach im weiteren Verlauf des Buches. Die letzten Kapitel zielen schließlich darauf ab, die Vergangenheit Koreas vor und nach dessen Teilung durch den Verlauf der fiktiven Handlung zu verstehen.

Inhalt
Die junge Hanna wurde als Kleinkind von Südkorea aus von einer deutschen Familie adoptiert und ist nun auf der Suche nach ihren leiblichen Eltern. Sie ist Übersetzerin und lernt auf ihrer Reise den 78-Jährigen Yunho Kang kennen. Diesem übersetzt sie einen Brief aus Amerika, der ihn über den Tod einer gewissen Eve Lewis informiert. Mit diesem Ereignis beginnt für Yunho eine Reise in die Vergangenheit, von der er der fremden Hanna und somit dem Leser berichtet.
Im Mittelpunkt seiner Erzählung steht eine komplexe Dreiecksgeschichte, die in den Jahren 1959 bis 1960 in Seoul und Osaka stattfindet. Die Hauptfiguren hierbei sind er selbst, sein bester Freund Mino Kim, der seinen Namen zu Johnny geändert hat und die rätselhafte Eve Moon.
Yunho und Johnny sind gemeinsam, quasi wie Brüder, im kleinen Dorf Nonsan im Westen von Südkorea aufgewachsen. Johnny ist der Sohn eines einflussreichen Schuldirektors und Yunho der Sohn dessen Haushälterin. Die damaligen politischen Ereignisse haben die beiden in unterschiedliche Lager gebracht und trennten sie. Nach gewisser Zeit treffen sie wieder aufeinander und Yunho lernt Johnny’s sonderbare Freundin Eve kennen, die dieser wie folgt beschreibt: „Man hat keine Beziehung mit Eve, man trifft sich nur mit ihr“. Eve erhält aufgrund ihrer Schönheit jegliche Aufmerksamkeit von den amerikanischen Soldaten – und auch Yunho verliebt sich heimlich in sie. Das Leben der Drei wird von den Auseinandersetzungen zwischen Süd- und Nordkorea und maßgeblich vom Handeln des damaligen Präsidenten Syngman Rhee, der von den Amerikanern in Südkorea aufgestellt wurde, bestimmt. Im Zuge dessen durchleben sie die Zeiten der roten Umerziehung, den ständigen Verlust von geliebten Menschen und Hab und Gut, die ständige Unsicherheit, den Identitätsverlust jedes Einzelnen und die von Rhee verbreitete antikommunistische Paranoia, durch die letztlich tausende Menschen sterben mussten.
Während Yunho sich dem kommunistischen Widerstand anschließt, wird Johnny eher zufällig und nicht aus politischer Überzeugung Mitglied der paramilitärischen Nord-West-Jugend. Diese führt mit fragwürdigen Vorgehensweisen und in Zusammenarbeit mit der teils korrupten Polizei den Kampf für eine Wiedervereinigung Koreas. Durch seine enge Freundschaft zu Johnny gerät auch Yunho in Bedrängnis, sodass beide im Auftrag der Nord-West-Jugend zur Manipulation der damaligen Wahlen zugunsten von Präsident Rhee beitragen. Als Johnny eines Tages betrunken und im Beisein von Yunho eins der Mitglieder tötet, werden sie und auch Eve von eben diesen verfolgt. Daraufhin fliehen sie zu dritt nach Japan und tauchen in der Stadt Osaka unter, die bereits einige sogenannte Zainichi beherbergt. Dort werden sie von Tetsuya und seiner koreanischen Familie beherbergt, denen sie den wahren Grund ihrer Flucht, Johnnys Gewaltakt, verbergen. Dieser ist ein wohlhabender Geschäftsmann und ein wichtiges Mitglied in der Organisation „Sōren“, die Nordkorea treu ist und nordkoreanische Propaganda in Japan verbreitet. Diese zielt darauf ab, möglichst viele im Exil lebende Koreaner zur „Großen Heimkehr“ nach Nordkorea zu bewegen. Der damalige nordkoreanische Präsident Kim Il Sung verbreitet sie als einzigartige Möglichkeit, ein Leben in Freiheit mit der gesicherten Aussicht auf Bildung, Arbeit und genügend Nahrung führen zu können. So kommt es dazu, dass Eiko, die Tochter von Tetsuya, zur Botschafterin dieser angepriesenen Heimkehr in ihrer Schulklasse wird und selbst dazu antreten möchte. Ihr Vater und die anderen Eltern, deren Kinder sich aufgrund von Eikos Überzeugung ebenfalls auf die Liste der Heimkehrer eintragen, sind empört und Eiko verschwindet schließlich. Es kommt dazu, dass Eve Tetsuya und seiner Frau vom wahren Grund ihrer Flucht erzählt und den Fokus dabei auf Johnnys Tat und Yunhos Beisein lenkt. Daraufhin wird Johnny der Entführung von Eiko beschuldigt und eingesperrt. 
Es stellt sich heraus, dass Eve als Informantin für die Amerikaner arbeitet und durch Johnny an interne Informationen über das tatsächliche Geschehen in Südkorea gelangen sollte. Auch Yunho wird von Tetsuyas Familie verstoßen. Johnny wird dazu gezwungen, sich trotz der falschen Anschuldigen entweder zur Entführung von Eiko zu bekennen oder selbst die große Heimkehr nach Nordkorea anzutreten und entscheidet sich für Letzteres. Eve taucht daraufhin ab, wobei sie und Yunho sich im späteren Leben noch ein Mal treffen, und Yunho wird gestattet, Johnny auf seiner Fahrt zu begleiten. Dieser spricht davon, seinen Vater suchen zu wollen und Yunho Briefe über seine Abenteuer auf der anderen Seite und über das Glück seines Vaters zu schicken. Sie vereinbaren einen Code für die Verschlüsselung der Briefe und Johnny betritt den Grenzübergang hoffnungsvoll im Glauben, er könne weiterhin in Kontakt mit ihm bleiben. Yunho erzählt Hanna, dass Jahre vergangen seien und er nie wieder etwas von Johnny gehört habe. Er sagt, dass die Nordkoreaner die Briefe der Heimkehrer zensiert und abgefangen haben. Er beendet das Gespräch damit, dass er ihr offen gesteht, dass er sein heutiges Wohlergehen und seine Freiheit Johnny zu verdanken hat, da dieser ihn letztlich davon abgehalten hat, „Die große Heimkehr“ selbst anzutreten.

Fazit
Aufgrund ihrer Herkunft und der Vergangenheit ihrer Familie, ist Anna Kim in „Die große Heimkehr“ indirekt ihrer eigenen Geschichte auf den Spuren, über die sie bis dahin, wie sie selbst sagt, wenig wusste. Generell möchte ich diesen Roman definitiv als fordernd beschreiben. Besonders in der ersten Hälfte des Buches ist es schwierig, in einen Lesefluss zu geraten und die fiktive Handlung aufgrund von vielen wechselnden Figuren und Geschehnissen zu verstehen. Ein großer Anreiz, das Buch dennoch weiterzulesen, sind die immer wiederkehrenden Passagen, in denen die Autorin den historischen Kontext erläutert, die meinen bereits bestehenden Wunsch verstärkt haben, mehr über diesen zu erfahren und auch die individuelle Geschichte so besser einordnen zu können.
Wirklich beeindruckend ist, wie sorgfältig und intensiv sie die Vergangenheit Koreas recherchiert hat und zugleich einen Bezug zur Gegenwart herstellt. Es wird deutlich, wie wenig in unserer Gesellschaft über Korea, sowohl vor als auch nach der Teilung, bekannt ist. Im weiteren Verlauf des Buches fühlt sich das eigentliche Lesen wie eine Art Geschichtslektion an, die auf dramatische und berührende Weise vermittelt wird. Zwischen den Zeilen zeigt Anna Kim die Zerrissenheit und die Hoffnung der Menschen und den Wunsch nach Individualität und freien Entscheidungen auf, die für mich sehr bewegend sind. Gerade den allgegenwärtigen Aspekt der Hoffnung auf eine eigene Identität verdeutlicht sie durch die Musik der amerikanischen Jazz-Sängerin Billie Holiday, die den Roman durchgängig auf melancholische Art begleitet und wie ein wiederkehrender stiller Kommentar wirkt. Ebenso wie die Geschichte des Buches handelt Billie Holiday von Enttäuschung und identitätsstiftender Liebe, sodass der Roman mit dem Einspiel der Musik beginnt und auch endet.
Erschreckend finde ich, wie sehr die koreanischen Bürger durchgehend ein Spielball von fremden Mächten waren und dass „Die große Heimkehr“ einen wahren Ablauf in der Geschichte bezeichnet; denn unter diesem hat Nordkoreas damaliger Machthaber Kim Il Sung die Menschen unter dem Vorwand ihnen eine sichere Zukunft mit Bildung, Arbeit und Nahrung bieten zu können, in ihr eigenes und teilweise bis heute anhaltendes Verderben gelockt.
Ich persönlich empfehle den Roman jedem, der sich für die Geschichte Koreas interessiert und besonders den heutigen Zustand in Nordkorea besser verstehen möchte. Man benötigt Durchhaltevermögen, um es bis zum Ende des Buches zu schaffen aber rückblickend betrachtet, ist der Roman unglaublich bereichernd.

 

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