Buchrezension von Lena H.: “CHINA KINDER – Moderne Rebellen in einer alten Welt” von Jörg Endriss und Sonja Maaß

BuchdetailsUnbenannt

Titel: CHINA KINDER – Moderne Rebellen in einer alten Welt

Autor: Jörg Endriss und Sonja Maaß

Erschienen: 2017

Seiten: 432

Verlag: Conbook Medien GmbH

ISBN: 978 – 3 – 95889 – 137 – 1

Preis: 12,95 €

Autoren: Jörg Endriss (*1973) und Sonja Maaß (*1976) sind begeisterte Chinakenner, die an dem von der Robert-Bosch-Stiftung und des Literarischen Colloquiums Berlin geförderten Autorenprogramm „Grenzgänger China-Deutschland“ teilgenommen haben. Sie haben beide zeitweise in China studiert, gelebt und auch gearbeitet.  Die Verbundenheit zu China ist groß und sie haben Kenntnis über das was sie schreiben und können den Wahrheitsgehalt der Lebensumstände ihrer Interviewpartner gut einschätzen.

Motivation: Das Gleichgewicht zwischen faktenbasierten Informationen und realitätsnahen Geschichten mit „Gesicht“ haben mich motiviert dieses Buch zu lesen. Das Buch ist sehr aktuell und liefert neben persönlichen Schicksalen in jedem Kapitel umfassende Hintergrundinformationen, die dem Leser helfen, die Erzählungen in einen Gesamtkontext einbinden zu können.

Aufbau des Buches: Zu Beginn des Buches geben die Autoren Jörg Endriss und Sonja Maaß einen kurzen Eindruck für den gedanklichen Umbruch der jungen Chinesen, die sie interviewt haben. Im Weiteren ist das Buch in 30 Kurzportraits aufgeteilt. Jedes Kapitel beginnt mit einem kurzen faktenbasierten Einstieg, so dass man das Interview als Leser besser verstehen und diesem besser folgen kann. Das Interview selber, sprich die persönliche Lebensgeschichte jedes einzelnen ist in einem Dialog verfasst.

Vereinzelt sind bestimmt Begriffe grau hinterlegt, was bedeutet, dass sie im hinten befindlichen Glossar noch einmal näher erläutert und umfassender beschrieben sind. In der Mitte des Buches wie auch zu Beginn jedes einzelnen Portraits sind Bilder der Gesprächspartner zu finden.

Inhalt:  „Uns ist es auch nicht mehr so wichtig, Karriere zu machen. Das Wichtigste für mich und für meine Freunde ist, etwas zu finden, das uns glücklich macht (37). Was die [Politiker] da oben machen, hat sowieso nichts mit uns zu tun. Ich versuche, mein eigenes Leben zu führen (S. 75).“

Zu Beginn des Buches beschreiben junge Chinesen ihr Leben, welches durch Regulierungen oder feste Vorgaben bestimmt ist. Sei es das Mädchen, welches aufgrund der Ein-Kind-Politik gar nicht offiziell existiert oder die Schüler, die am Ende ihrer Schulzeit jede freie Minute für ihre alles entscheidende Abschlussprüfung lernen.

Bei dieser Prüfung geht es nicht um das Bestehen oder Nicht-Bestehen, sondern um die Frage wie viele Punkte kann ich erreichen und welchen Studiengang kann ich an welcher Universität studieren? Auch wenn die Schüler in der Schulzeit doch einmal wenige Minuten Zeit gefunden haben, sich über ihre Vorlieben und Berufswünsche Gedanken zu machen, entscheidet das Testergebnis wie ihr Leben im Weiteren verlaufen wird.

Jedoch wäre es falsch ausschließlich auf die Punktzahl zu achten, auch die Herkunft der Schüler ist sehr entscheidend. Stadtkinder haben weitaus größere Chancen als Schüler aus dörflichen Regionen, einen der beliebten Studienplätze zu erhalten. Für die Schüler aus den Städten, in denen die Universitäten lokalisiert sind, gibt es reservierte Plätze, da in China vieles über den Wohnort, den Hukou entschieden wird. Die restlichen begrenzten Plätze sind so beliebt, dass aufgrund der hohen Nachfrage die benötigten Punkte um ein Vielfaches höher sein können, als sie für die Stadtkinder sind.

Wenn man bedenkt, dass die Kinder auf dem Dorf zudem teilweise noch schlechtere Schulbedingungen haben, ist deren Leistung hoch anzusehen. Die Herkunft beeinflusst die eigene Bildung enorm und bestimmt somit den weiteren Lebensweg. Die sogenannten „Fuerdai“, die Kinder reicher Eltern, haben sogar die Chance auf Schulen zu gehen, die den Kindern diese Abschlussprüfung ersparen, da ihnen mit dem Abschluss an diesen Schulen ein Studienplatz gesichert ist.

Zentraler Bestandteil der Geschichten der jungen Chinesen ist das Thema Hochzeit. Die Familien machen den Kindern großen Druck und engagieren zum Teil Heiratsvermittler, um die Kinder unter die Haube zu bringen.

Ein großer Faktor bei der Heirat ist jedoch das Geld, da vielen Ehen arrangiert werden. Aufgrund der Ein-Kind-Politik gibt es einen deutlichen Überschuss an Männern, da die Mädchen früher teilweise abgetrieben und die Jungen als wichtiger angesehen wurden, so dass diese die Familienlinie übernehmen konnten. Nun ist die Situation jedoch so, dass die Frauen sich ihren Partner aussuchen und große Ansprüche stellen können. Die Männer müssen in einigen Fällen nehmen, was sie kriegen können. Teilweise verlangen die Eltern der Braut ein hohes Brautgeld, zudem muss der Bräutigam eine Wohnung bzw. ein Haus kaufen und die Hochzeit bezahlen können. Auch wenn Partner schon für eine lange Zeit zusammen waren, sich gut verstehen und entschieden haben zu heiraten, muss der Mann sich entweder hoch verschulden oder wird im Falle des Nichtzahlens von der Frau verlassen. Je älter die Kinder werden, desto mehr werden sie von den Eltern unter Druck gesetzt.

In der Mitte des Buches konzentrieren sich die Portraits auf die Lebensgeschichten von Andersdenkenden und Neugestaltern ihrer eigenen Welt. Junge, kreative, gesundheitsbewusste und nachhaltig lebende Chinesen, die ihrer inneren Überzeugung folgen und sich von niemandem leiten lassen wollen, erzählen von ihrem Leben. Sie wollen ihren Lebensweg selbst bestimmen, etwas Sinnvolles erreichen und eine Arbeit finden, die ihnen Erfüllung bringt. Dafür müssen junge Menschen in China allerdings große Widerstände überwinden und sich gegen konservative Eltern und traditionelle Konventionen durchsetzen. Hier sind z.B. Portraits von überzeugten Ökobauern zu finden, die nach einem erfolgreichen Bauingenieurwesen-Studium doch etwas anderes machen wollten und freiwillig zurück ins Dorf ihrer Eltern gezogen sind, wo sie unter armen Bedingungen leben. Oder von einem Fotografen, sowie Musikern, die es lieben umherzuziehen und ihre Leidenschaft zum Beruf machen zu können.

In den Portraits von Hongkongern  geht es zentral um die Frage wie chinesisch sich die Menschen dort fühlen und was sie von ihrem Leben und der Situation erwarten, wenn Hongkong nach fast 200 Jahren wieder offiziell zu der Volksrepublik Chinas gehört, was 2047 nach einer 50-jährigen Übergangszeit der Fall sein wird. Schon jetzt sind immer mehr Veränderungen im Leben der Hongkonger zu spüren.

Im Buch gibt es auch Portraits, die von dem Leben in Taiwan handeln. Der geschichtliche Hintergrund Taiwans wird kurz erläutert und zentral ist hier zum einen die Situation von Chinesen in taiwanesischen Universitäten, so wie die wirtschaftlichen Einschränkungen durch China. China, als Welt- und Marktmacht, hat anderen Nationen mit Sanktionen gedroht, wenn sie mit Taiwan Handel treiben oder politische Beziehungen pflegen. Dieses Verbot trifft die Taiwanesen hart, schränkt sie ein und macht sie von China abhängig.

Das Buch verdeutlicht jedoch auch mehrere Fälle von Korruption in ganz verschiedenen Bereichen. Korruption gibt es in China überall, so z.B. in der Politik, bei Behörden und anderen Apparaten, aber auch schon bei der Einschulung der Kinder. In China ist es so, dass, wenn ein Kind in die Grundschule kommt und die Eltern den Lehrern keine Geschenke machen, dass sich diese dann nicht um das jeweilige Kind kümmern und es von Beginn an keine weitere Unterstützung der Lehrer erhält.

Das Thema Homosexualität wird im Rahmen des Buches auch kurz angeschnitten. Das Buch beschreibt zwei Schicksale von Männern, die mit ihren Familien gebrochen haben, da sie ihre Orientierung offen ausleben wollen. Die Mehrheit der Homosexuellen heiratet noch trotz anderer Neigung jeweils einen Mann oder eine Frau, da für sie die Gefahr und Angst besteht, verstoßen oder benachteiligt zu werden. In China ist Homosexualität seit 1997 nicht mehr strafbar und seit 2001 gilt sie nicht mehr als psychische Krankheit. Wenn man bedenkt, dass die Legalisierung erst seit 21 bzw. 17 Jahren besteht, ist zu erwarten, dass die Akzeptanz gerade in dörflichen Regionen noch sehr lange wachsen muss.

Fazit: Ich kann jedem uneingeschränkt das Lesen des Buches „China Kinder – Moderne Rebellen in einer alten Welt“ empfehlen, da es meinen Blickwinkel absolut erweitern konnte und ich Dinge erfahren habe, von denen ich während meines Aufenthaltes in China nur profitieren kann. Das Verständnis für die chinesische Kultur hat sich verändert. Jedes einzelne Kurzportrait ist absolut lesenswert. Besonders relevant wird für mich die Situation meiner chinesischen Kommilitonen sein, welche meinen gebührenden Respekt verdienen, wenn sie sich ohne die Hilfe ihrer Eltern unter ständigem Druck einen Studienplatz an einer der besten Universitäten Shanghais haben sichern und erarbeiten können. Auch wenn einige Geschichten für mich weiterhin ungreifbar sind, weil sie so different zu unserer deutschen bzw. westlichen Kultur sind, fühle ich mich nun nach dem Lesen ein Stück weit besser auf meinen Aufenthalt an der Tongji University vorbereitet.

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