Buchrezension “Südlich der Grenze, westlich der Sonne” von Haruki Murakami

Allgemeine Informationen:

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne
Originaltitel: Kokkyo no minami Taiyo no Nishi
Autor: Haruki Murakami
Erscheinungsjahr: 1992 (Originalausgabe), 2013 (deutsche Ãœbersetzung)
Seitenzahl: 224
Verlag: btb Verlag; 1. Auflage (August 2015)
ISBN-13: 978-3442749447

Der Autor

Haruki Murakami gilt als einer der bekanntesten und populärsten japanischen Autoren. Er wurde 1949 in Kyōto, Japan geboren und wuchs in einem Vorort von Kobe auf. Während seines Studiums in Tokyo widmete er sich der Theaterwissenschaft. Dort führte er auch nach seinem Abschluss von 1974-1982 eine Jazzbar namens „Peter Cat“. Ab den 80er Jahren begann Murakami auch nach Europa und in die USA zu reisen, wo er als Gastdozent und später auch als Gastprofessor an der Princeton University beschäftigt war. Seine Erstlingswerke „Wenn der Wind singt“ und „Pinball, 1973“ veröffentlichte er 1979 und 1980, distanzierte sich aber später von ihnen. Es folgten Titel wie „Naokos Lächeln“, „Kafka am Strand“ oder „1Q84“, die ihm zahlreiche Literaturpreise einbrachten und ihn zu einem Favoriten für den Literaturnobelpreis machten.

Mich fasziniert an Murakamis Romanen, dass sie häufig von einer sehr metaphorischen Sprache und surrealistischen Traumwelten geprägt sind. So kann er Gefühle auf eine einzigartige Weise übermitteln und lässt den Leser dennoch einen eigenen Raum zur Interpretation. Auch ist seine Sichtweise auf die japanische Kultur in seinen Romanen interessant, da er aufgrund seiner langjährigen Auslandserfahrungen in Europa und den USA eine eher westliche Perspektive auf die japanische Gesellschaft und Literatur besitzt.

Warum gerade ‚Südlich der Grenze, westlich der Sonne‘?

Ich hatte bereits den Roman “Kafka am Strand” von Murakami gelesen, der mich mit seiner surrealistischen Schilderung der Suche des Jungen Kafka Tamura nach seiner eigenen Persönlichkeit begeistert hatte. Beim Durchstöbern seiner anderen Werke stieß ich auf seinen Roman “Südlich der Grenze, westlich der Sonne”. Dieser weckte mein Interesse, da er gerade keine mystischen Traumwelten und sprechenden Tiere enthält, was für ein Murakami-Werk eher untypisch ist. Daher war ich gespannt darauf, ob mich auch ein relativ realistisch gehaltener Murakami-Roman fesseln würde. Darüber hinaus galt das Buch unter deutschen Literaturkritikern als kontrovers und sorgte für einen Eklat in der Sendung “Das Literarische Quartett”, da sich die Literaturkritikerin Sigrid Löffler über die Vulgarität und Oberflächlichkeit des Romans beschwerte. Sigrid Löffler verließ nach der hitzigen Diskussion die Sendereihe. Ergeben hatte sich diese Kontroverse zum Teil durch eine eher flapsige Ãœbersetzung des Romans aus dem Englischen. Der Roman erschien später nochmals in einer Direktübersetzung aus dem Japanischen, welche ich hier rezensiere. Angesichts dieses Skandals war ich neugierig darauf, ob Sigrid Löfflers Kritik wirklich nur aus dem sprachlichen Stil der alten Ãœbersetzung resultierte.

Buchinhalt

Das Einzelkind Hajime hat in der Nachkriegszeit auf dem Land, umgeben von Kindern mit Geschwistern, keine wirklichen Freunde. Bis das Mädchen Shimamoto – ebenfalls ein Einzelkind – an seine Schule kommt. Die zurückhaltende, gehbehinderte Shimamoto und der einsame Hajime freunden sich an und verbringen viel Zeit mit Gesprächen und Spaziergängen. In Shimamotos Haus hören sie sich häufig die Schallplatten ihres Vaters an, darunter auch den Titel “South of the Border” von Nat King Cole. Als die beiden jedoch auf Mittelschulen in unterschiedlichen Städten wechseln, verlieren sie sich aus den Augen. Hajime wächst heran und bricht auf der Oberschule seiner ersten festen Freundin Izumi das Herz, als er sie mit ihrer Cousine betrügt. Wie sich später herausstellt, hat er sie damit seelisch völlig zerstört.

Nach seinem Studium geht Hajime seiner tristen Arbeit als Schulbuchlektor nach und fühlt eine innere Leere, die auch mehrere Geliebte nicht durchbrechen können. Zufällig begegnet ihm dann jedoch auf der Straße eine hinkende Frau, die ihn an Shimamoto erinnert. Als er endlich den Entschluss fasst sie anzusprechen, wird er plötzlich von einem mysteriösen Mann zurückgehalten. Dieser übergibt ihm einen Umschlag mit Geld und bittet ihn, sich von der Frau fernzuhalten. Wenig später lernt Hajime während eines Sommerurlaubs Yukiko kennen, die er heiratet und mit der er zwei Kinder bekommt. Durch die finanzielle Unterstützung von Yukikos Vater, einem zwielichtigen Bauunternehmer, kann Hajime zwei gut laufende Jazzbars in Tokyo eröffnen. Nichtdestotrotz erscheint ihm sein Leben surreal, da er von den dubiosen Investmentgeschäften seines Schwiegervaters profitiert und nicht aus eigener Kraft ein Unternehmen aufgebaut hat.

Eines regnerischen Abends erscheint Shimamoto in Hajimes Bar. Elegant gekleidet und offenbar wohlhabend, will sie Hajime kaum etwas über ihr Leben zwischen ihrer Schulzeit und dem Treffen in der Bar preisgeben. Er erfährt lediglich, dass er Shimamotos einziger wahrer Freund in ihrem Leben gewesen ist. Nach diesem Treffen verschwindet Shimamoto für einige Monate, bis sie ohne Erklärung erneut die Bar aufsucht und Hajime bittet, mit ihr einen Fluss zu finden, der in einem ruhigen Tal liegt und ins Meer fließt. Zusammen machen sie einen heimlichen Ausflug nach Ishikawa, wo Shimamoto die Asche ihrer nach der Geburt gestorbenen Tochter in einen idyllischen Fluss streut, in der Hoffnung, dass die Asche ins Meer treibt und zu Regen wird. Auf der Rückfahrt rettet ihr Hajime das Leben, als sie in einen totenähnlichen Zustand verfällt, gegen den nur eine seltsame Tablette aus Shimamotos Tasche zu helfen vermag. Zurück in Tokyo treffen sich die beiden wöchentlich zu Spaziergängen, bis Shimamoto wieder für Monate verschwindet. Als sie zurückkehrt, schenkt sie Hajime die Schallplatte mit Nat King Coles „South of the Border“ aus ihrer gemeinsamen Kindheit. Hajime entscheidet sich dafür, sein bisheriges Leben für Shimamoto aufzugeben und fährt mit ihr zu seinem Wochenendhaus nach Hakone. Shimamoto ist nach einer leidenschaftlichen Liebesnacht wieder spurlos verschwunden, genauso wie die Schallplatte, die sie Hajime geschenkt hatte und der Geldumschlag, den Hajime von dem mysteriösen Mann erhalten und all die Jahre aufbewahrt hatte. Wie sich zuvor herausgestellt hat, ist die Frau auf der Straße, die Hajime damals gesehen hat, tatsächlich Shimamoto gewesen. Somit verschwindet auch der letzte Beweis für Shimamotos Existenz und ihr rätselhaftes Leben. Hajimes Sehnsucht nach Shimamoto lässt daraufhin langsam nach und er kehrt schließlich in die Ehe mit seiner Frau zurück, in der Hoffnung, noch einmal einen Neuanfang mit ihr wagen zu können.

Interpretation & kritische Würdigung

Haruki Murakami umschreibt in diesem Roman treffsicher ein Gefühl, das der heutigen Generation sehr bekannt sein dürfte: Ein Gefühl der Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben und die vage Sehnsucht nach etwas Besserem. Für Hajime ist Shimamoto etwas westlich der Sonne, etwas Unerreichbares, das die verpassten Möglichkeiten in seinem Leben darstellt. Ihn befällt die im Roman beschriebene „Hysteria siberiana“, welche Bauern in der eintönigen sibirischen Tundra dazu zwingen soll, ein Land westlich der Sonne zu suchen, bis sie auf der Wanderung zusammenbrechen und sterben. Shimamoto ist das Chaos und der Tod in Hajimes Leben, von dem sie ihn durch ihr endgültiges Fortgehen erlöst.                                                                                                                        Durch eine beeindruckende Wahl von Motiven und Stilmitteln lässt Murakami dabei Shimamoto als eine Fantasie erscheinen, die Hajime nur in regnerischen Nächten heimsucht. Als zuletzt auch die Schallplatte und der Geldumschlag verschwinden, fragt man sich auch als Leser, ob Shimamoto real und nicht nur eine Wunschvorstellung ist. Selbst die Aufnahme von Nat King Cole scheint unwirklich, hat dieser den Song „South of the Border“ wohl nur in Murakamis Roman gesungen. Vielleicht ist es diese Irrealität, die Hajime es ertragen lässt, Shimamoto endgültig zu verlieren und in ein Leben zurückzukehren, das er bisher kaum selbst gestaltet hat. Ihr Verschwinden gibt Hajime den Impuls, sich von der Vergangenheit zu lösen und ein neues Leben mit seiner Frau anzufangen, was ich zugleich als tragisch als auch als hoffnungsvoll empfinde.                     Interessant finde ich auch die Verteilung der Geschlechterrollen im Roman, die für die noch recht konservative japanische Gesellschaft ungewöhnlich ist: Hajime treibt nur in seinem Leben voran, das von äußeren Einflüssen wie der Einmischung durch seinen korrupten Schwiegervater bestimmt ist. Dagegen ist über Shimamotos Leben fast nichts bekannt, doch sie hat eine willensstarke Persönlichkeit, kommt und geht wann sie will und übernimmt auch in der leidenschaftlichen Liebesnacht mit Hajime die Initiative. Als Abbild einer traditionellen japanischen Ehefrau fungiert Hajimes Ehefrau Yukiko, die liebevoll und zurückhaltend Hajimes emotionale Abkapselung von ihr erträgt, am Ende jedoch auch an Stärke gewinnt und Hajime vor die Wahl stellt, ob er weiter mit ihr leben möchte. Diese starken, fast schon westlich geprägten Frauencharaktere sorgen für einen kulturellen Kontrast zu dem typisch japanischen, wenig Eigeninitiative zeigenden Mann Hajime. Murakami ist es in diesem Roman daher gelungen, seine autobiographisch begründete westliche Perspektive in die Geschichte einzubringen und ein typisches Geschlechterrollenbild umzudrehen.

Dementsprechend kann ich die Auffassung der Literaturkritikerin Sigrid Löffler, es handle sich bei “Südlich der Grenze, westlich der Sonne” um „literarisches Fast Food“, absolut nicht teilen. Murakami hat mit diesem Roman eine kunstfertige Liebesgeschichte voller Dramatik und Einsamkeit geschaffen, die trotz ihres Erscheinens im Jahr 1992 immer noch das aktuelle Zeitgefühl trifft und mich tief berührt hat. Insofern kann ich den Roman uneingeschränkt weiterempfehlen.

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One Response to Buchrezension “Südlich der Grenze, westlich der Sonne” von Haruki Murakami

  1. MadeleineH says:

    Hallo Svenja,
    vielen Dank für Deine Buchrezension. Das Lesen Deiner Buchrezension hat mir nicht nur viel Freude bereitet, sondern mich auch neugierig auf die Werke von Haruki Murakami gemacht.
    Ich finde es sehr spannend, dass Du einer der wenigen bist, die schon vor dieser Buchrezession schon eine Literatur des Autors Haruki Murakami gelesen hast und Dir der Sprachstil des Autors schon bekannt war.
    Diese Literatur hat eine Liebesgeschichte auf eine mysteriöse und mystische Art und Weise dargestellt. Man kann den typischen Schreibstil von Haruki Murakami erkennen, da es erst scheint, dass die Zusammenhänge schwierig erkennbar sind, sie jedoch in der Ganzheitlichkeit betrachtet wiederzuerkennen sind und sich ein roter Faden durch die Geschichte aufzeigen lässt.
    Es ist sehr spannend, Deine Rezession vom Buch zu lesen, da es auf die mysteriöse Liebesgeschichte auf eine prägnante Art und Weise aufzeigst und den schwierigen Sprachstil des Autors einfach wiederspiegelt.
    Ich bedanke mich sehr bei Dir, für diese Wahl des Buches, da ich es vermutlich eigenständig nicht gelesen hätte. Durch Dich hatte ich die Möglichkeit, den Autor Haruki Murakami näher kennen zu lernen und eine Reise in mysteriöse Worte zu erleben. Vielen Dank für diese Reise.

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