Buchrezension: Ich nannte ihn Krawatte

Buchdetails:

Ich_nannte_ihn_Krawatte_xxlTitel: Ich nannte ihn Krawatte

Autorin: Milena Michiko Flašar

Gebundene Ausgabe:

Verlag: Klaus Wagenbach

Erscheinungsjahr: 2012

Seiten: 144

Kapitel: 114

Taschenbuch:

Verlag: btb; 4. Auflage (April 2014)

Preis: 8,99 €

Motivation:

Für die Buchrezension habe ich mich für eine Lektüre entschieden, die aktuelle Probleme der japanischen Gesellschaft behandelt. Schon die ersten Seiten der Geschichte haben mich in den Bann gezogen. Vor allem erhoffte ich mir einen Einblick in die kulturelle Denkweise zu erhalten, die man auch nicht durch eigene Auslandserfahrungen erhalten kann.

Autorin:

Milena_Michiko_3Milena Michiko Flašar, geboren in St. Pölten in Österreich 1980, hat in Wien und Berlin Komparatistik, Germanistik und Romanistik studiert. Sie ist die Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters, lebt in Wien als Schriftstellerin und unterrichtet nebenbei Deutsch als Fremdsprache. Bereits von ihr erschienen sind die Bücher Ich bin und Okaasan – Meine unbekannte Mutter. Für ihren Roman Ich nannte ihn Krawatte erhielt sie 2012 den österreichischen Literaturpreis Alpha.

Handlung:

Der Roman von Milena Michiko Flašar ist aus der Perspektive des zwanzigjährigen Taguchi Hiros geschrieben und spielt in einer beliebigen Stadt in Japan, die nicht genannt wird. Der Ich-Erzähler schottet sich bewusst von seinen Eltern und der Gesellschaft ab, in dem er sich in seinem Zimmer verkriecht und jeglichen menschlichen Kontakt meidet. Er ist ein sogenannter Hikikomori. So werden junge Menschen in Japan bezeichnet, die sich freiwillig in ihr Zimmer oder ihre Wohnung zurückziehen und den Kontakt zur Gesellschaft meiden. Erst nach zwei Jahren, im Winter, wagt er sich wieder zögerlich nach draußen, langsam und vorsichtig. Er gelangt zu der Parkbank seiner Kindheit, die er mit vielen positiven Erinnerungen verbindet, und lässt sich darauf nieder. Danach trieb es ihn jeden Morgen in den Park. Dort im Park trifft er auf Ohara Tetsu, einen achtundfünfzigjährigen Salaryman, der sich ebenfalls auf einer Bank niedergelassen hat. Taguchi beobachtet ihn wie er isst, raucht, Zeitung liest und döst. Aus einer zufälligen Begegnung wird allmählich eine Bekanntschaft, denn obwohl der ältere Mann einen Anzug trägt, und aussieht als würde er lediglich seine Mittagspause im Grünen verbringen, kommt er jeden Tag und verweilt bis in die Abendstunden im Park. Zunächst nenn Taguchi ihn nur für sich „Krawatte“, weil Ohara eine rot-grau gestreifte Krawatte trägt. Später stellen sie sich gegenseitig vor, und je öfter sie sich im Park treffen, desto vertrauter werden ihre Gespräche. Taguchi Hiro erfährt, dass Ohara Tetsu seine Arbeit verloren hat. Seiner Frau Kyoko hat er davon nichts erzählt, weil er es nicht über das Herz gebracht habe. Zu große Angst habe er, sie zu enttäuschen. Deshalb verlässt er seit zwei Monaten jeden Morgen pflichtbewusst die Wohnung, seine Frau in dem Glaube lassend, er ginge zur Arbeit. Den Tag verbringt er im Park und kehrt abends nach Hause zurück, um die Illusion, alles sei normal, aufrecht zu erhalten. Nach seinen Offenbarungen, bricht auch Taguchi Hiro sein Schweigen, und erzählt Ohara von dem tragischen Auseinanderbrechen seiner Kindheitsfreundschaft, dem Leistungsdruck in der Schule, und dem schlussendlichen Auslöser, sich bewusst von der Gesellschaft abzuwenden. So musste Taguschi Hiro zuschauen, wie sich ein Schulfreund vor seinen Augen in den fließenden Verkehr einer stark befahrenen Straße stürzte. Mit der Zeit, erzählen sich die beiden abwechselnd, was sie in ihren Leben erleiden mussten, und werden somit schleichend Teil vom Leben des anderen. So erfährt Taguchi Hiro eines Tages von der arrangierten Ehe zwischen Ohara und Kyoko, von dem einzigen Sohn der beiden, welcher mit einer Behinderung zur Welt kam und bereits nach wenigen Monaten starb. Zudem wird deutlich wie sehr Ohara bereut, dass er nicht in der Lage war, seinen einzigen Sohn wegen seiner Behinderung und den nicht erfüllten Erwartungen, lieben zu können, wie er es verdient hätte. Aber auch Taguchi Hiro hat schlimme Erlebnisse hinter sich. Er hat stumm beobachtet wie seine Kindheitsfreundschaft, das Nachbarsmädchen, von anderen Mitschülern gemobbt und gedemütigt wurde. Doch anstatt anzugreifen, hat er versucht nicht aufzufallen, um nicht selbst zum Opfer zu werden. Schließlich weiß das junge Mädchen keinen Ausweg mehr und nimmt sich das Leben, indem es sich aus Verzweiflung aus dem fünften Stock des Schulgebäudes stürzt.

Die unerwartete Begegnung der beiden Außenseiter entwickelt sich zu einer Freundschaft auf ganz eigener Weise. Mit der Zeit helfen sie sich gegenseitig ihr eigenes Handeln und ihre Fehler zu reflektieren. Gemeinsam entwickeln sie Willenskraft etwas an ihrem Leben zu ändern.

Fazit:

Beim Lesen des Buches sind mir viele Besonderheiten aufgefallen, die mir einen Einblick in die japanische Kultur und Gesellschaft ermöglichten. Vor allem werden in dem Buch die kulturellen und gesellschaftlichen Probleme verdeutlicht. Zum einen zu nennen wäre das Phänomen der Hikikomoris, wie auch Taguchi Hiro einer ist. Taguchi Hiro zählt zu den zwischen einigen Hunderttausend und eine Million geschätzten Hikikomoris in Japan. Ein Phänomen das überwiegend männliche Jugendliche betrifft. Die Ursachen werden in dem Buch sehr gut deutlich. Zum einen fühlt sich Taguchi Hiro überfordert von den hohen Erwartungen der Gesellschaft, zum anderen fällt es ihm schwer zwischen dem „öffentlichen Gesicht“ und dem „wahren Ich“ zu unterscheiden. So freundet sich Taguchi Hiro im Kindesalter mit dem Nachbarsmädchen an, das zu einer Familie gehört, über die in der gesamten Siedlung geredet wird. Im Teenageralter wird das Mädchen in der Schule zum Mobbingopfer. Taguchi Hiro steht mit sich selbst im Konflikt, er kann nicht eingreifen, ohne negativ aufzufallen und sich selbst der Gefahr auszusetzen zum Opfer zu werden, obwohl ihm das Mädchen leid tut. Zudem werden auch die Konsequenzen und Probleme der Eltern beschrieben, denn einen Hikikomori in der Familie zu haben ist mit großer Angst vor Demütigung verbunden. Die Problematik des japanischen Phänomens Honne (wahren Gefühle und Wünsche) und Tatemae (Maskerade) werden in dem Buch sehr anschaulich und authentisch beschrieben ohne je zu urteilen. Obwohl die Atmosphäre über das ganze Buch melancholisch ist, schafft die Autorin den Leser, durch ihre poetische Schreibweise, in den Bann der beiden Charaktere und ihrer Gedankenwelt zu ziehen. Zugleich strahlt die Geschichte Hoffnung und Willenskraft aus, das Leben zu ändern.

Ich kann das Buch nur jedem empfehlen, der an gesellschaftskritischen Themen interessiert ist, und Wert legt auf kluge und sprachlich ausgefeilte Romane. Auf eine einfühlsame Weise schafft es die Autorin ein Bild von den Besonderheiten der Kultur und dem Lebensgefühl Japans zu kreieren.

This entry was posted in German, Japan, Literature review. Bookmark the permalink.

One Response to Buchrezension: Ich nannte ihn Krawatte

  1. Anna says:

    Hallo Karina,

    vielen Dank für deine Rezension und auch für die Präsentation des Buches.
    Da ich ja wie du ebenfalls mein Auslandssemester in Japan verbringen werde, freue ich mich natürlich immer über Rezensionen mit Geschichte und Bezug zu diesem Land. Wenn dann auch noch gesellschaftliche Hintergründe, wie kulturelle Bräuche oder wie hier soziale Phänomene thematisiert werden, lese ich die Rezension (und vielleicht anschließend auch das Buch) umso lieber.
    Was mir gut gefallen hat, ist, dass hier die eigentliche Handlung (ein Junge und ein Mann treffen sich auf einer Parkbank und berichten von ihren gegenseitigen Leben) bewusst nicht im Vordergrund des Romans steht, sondern viel mehr die Geschichte dahinter, wie es die beiden in diesen Park verschlagen hat. Die sozialen Phänomene des Hikikomori auf der einen und des „Gesichts verlieren“ (hier durch den Verlust des Arbeitsplatzes) auf der anderen Seite sind zwei Elemente der Geschichte, die gut miteinander harmonieren, weil sie sich auf der einen Seite sehr ähneln und gleichzeitig doch unterscheiden. Der eine, Taguchi Hiro, hat sich als Hikikomori von der Außenwelt abgeschottet. Der andere, Ohara Tetsu, hat seinen Job verloren und aus Angst und Scham, es seiner Frau zu sagen, geht er jeden Tag in den Park und tut so, als würde er wie gewohnt zur Arbeit gehen. Auf den ersten Blick scheinen die beiden Protagonisten nichts gemeinsam zu haben, erst bei näherem Hinsehen fallen Überschneidungen ihrer beiden Schicksale auf. Im Endeffekt zwingen die gesellschaftlichen Konventionen in Japan sie, die Leben von sozial Ausgestoßenen zu führen. Das ist ein Aspekt, den man gerade als deutscher Leser nur schwer nachvollziehen kann; hier hätte man wohl eher den Drang, den beiden Figuren Hilfe zukommen zu lassen, anstatt sie auszustoßen. Dass die japanische Kultur dies aber scheinbar nicht vorsieht, schafft Traurigkeit und Unverständnis zugleich. Du hast mit deiner Rezension deutlich gemacht, dass die kulturellen Bräuche tief in den Köpfen der japanischen Gesellschaft verankert sind und auch wenn uns das als grausam erscheint, wird ihnen ein extrem hoher Stellenwert beigemessen. Gerade das Phänomen der Hikikomori hast du ja auch als mittlerweile sehr verbreitet in ganz Japan beschrieben; und obwohl die eigentliche Handlung, nämlich sich nach einem traumatischen Ereignis vor der Außenwelt zu verstecken, alles andere als unbekannt in der ganzen Welt ist, haben die Japaner doch ihre ganz eigene Art, damit umzugehen. Ich bin sehr gespannt, wie viele solcher kulturellen Unterschiede im Umgang mit Menschen wir selbst beobachten können, wenn wir dort sind. Deine Rezension erinnert daran, dass andere Länder auch nicht immer nur Sonnenseiten haben.

Comments are closed.