Buchrezension: Japanische Volksmärchen

Details zum Buch: 

Titel: Japanische Volksmärchen

Herausgeber: Horst Hammitzsch

Verlag: Eugen Diederichs Verlag, 1964

Seiten: 332

ISBN-10: 3424002879

 

Ãœber den Herausgeber:

Horst Hammitzsch studierte an der Universität Leipzig Sinologie, Japanologie und Mongolistik. Nach Abschluss seines Studiums zog er nach Japan, wo er acht Jahre lang Deutsche Sprache und Literatur lehrte. Zurück in Deutschland unterrichtete er als Professor der Japanologie 12 Jahre lang an der Ruhr-Universität Bochum. Insgesamt arbeitete Hammitzsch vor allem auf zwei Gebieten: der Geistes- und Religionsgeschichte sowie der japanischen Poesie. Viele Übersetzungen vom Japanischen ins Deutsche stammen von ihm.

Motivation:

Die Idee, mich mit japanischen Volksmärchen auseinanderzusetzen, entstand eher zufällig. Während der Zeit meiner Themensuche für das Literaturforums erschien ein neuer Disney-Märchenfilm und erreichte eine gewisse Beliebtheit. In den unterschiedlichsten Medien wurde über den Märchenfilm berichtet und unweigerlich stellte ich mir die Frage: Mit welchen Märchen wachsen eigentlich Kinder in Japan auf? Welche Aspekte thematisieren japanische Märchen und welche Werte werden vermittelt? Sind Volkssagen in Japan ähnlich beliebt wie in Deutschland und haben sie auch heute noch Einfluss auf die japanische Kultur? Des Weiteren sah ich in der Untersuchung von japanischen Märchen die Möglichkeit, ein Stück japanischer Kultur direkt zu erfahren – ohne eine eventuelle Verzerrung durch den subjektiven Blickwinkel eines Autors. Bei diesem Buch handelt es sich um eine Sammlung verschiedenster Märchen als Teil einer kollektiven Kultur. Die Geschichten haben sich über Jahrtausende entwickelt und erhalten und stellen somit für mich einen wesentlichen und unveränderten Kern der alten japanischen Kultur dar.

Inhalt:

Ich habe mich entschieden, zwei verschiedene japanische Volksmärchen vorzustellen. Bei der Geschichte vom Bambussammler handelt es sich um die älteste märchenhafte Erzählung Japans: das Märchen wurde circa im Jahr 900 verfasst. Bei der Geschichte vom Kind aus dem Pfirsich handelt es sich um eine der bekanntesten japanischen Heldensagen.

 

Die Geschichte vom Bambussammler

(jap. Taketori Monogatari 竹取物語 ; auch bekannt als die Geschichte der Prinzessin Kaguya)

Ein kinderloser Bambussammler bemerkt eines Tages während seiner Arbeit im Wald einen leuchtenden Bambus, in dem sich ein winziges Menschlein verbirgt. Er nimmt es mit nach Hause, um es mit seiner Frau aufzuziehen. In den folgenden Monaten findet der alte Bambusschneider hin und wieder ein Goldstück zwischen dem Bambus. Das Kind wächst schnell heran und ist strahlend schön, weshalb sie den Namen „Nayotake no Kaguya-hime“, Leuchte-Prinzessin, bekommt.

Innerhalb von nur drei Monaten reift sie zu einer erwachsenen Frau heran und ist für ihre Schönheit weithin bekannt. Viele Verehrer versuchen, sie für sich zu gewinnen. Nach langem Warten harren nur noch fünf Bewerber aus. Um zu erkunden, wie ernst die adligen Verehrer es meinen und ob sie tatsächlich Gefühle für sie besitzen, stellt Kaguyahime jedem eine Aufgabe, die er lösen soll – doch keiner kann die ihm gestellte Aufgabe erfüllen. Nachdem die fünf Adligen gescheitert sind, interessiert sich auch der Kaiser für Kaguya-hime. Kaguya-hime erwidert seine Gefühle. Im Laufe der Geschichte stellt sich heraus, dass die Leuchte-Prinzessin vom Volk des Mondes auf die Erde geschickt wurde und dass sie auch bald dorthin zurückkehren müsse. Warum die Mondprinzessin auf die Erde geschickt wurde ist nicht klar, verschiedene Varianten der Geschichte berichten von einer Strafe für ein Verbrechen, in anderen Versionen wird sie wegen eines Krieges auf dem Mond auf die Erde in Sicherheit gebracht. Sie muss dann zum Mond zurück, weil der Krieg vorbei ist. Kaguya-hime erkennt, dass eine Welt ohne Tränen eine Welt ohne Liebe ist, weshalb sie nicht mehr auf ihren Planeten will, auf dem die Wesen weder altern, noch Sehnsucht oder Leid empfinden können. Da sie trotzdem zurückkehren muss, hinterlässt sie ihren Eltern sowie ihrem geliebten Kaiser einen Brief und das Elixier des „Nicht-Sterbens“, das es ihnen ermöglichen würde, Kaguya-hime in ihre Welt zu folgen. Der Kaiser vernichtet jedoch sowohl den Brief als auch das Elixier, denn er möchte nicht in einer Welt ohne Gefühle leben. Die Japanologin Matsubara Hisako fasst die Kernaussage der Geschichte wie folgt zusammen: „Mit vibrierendem Herzen sich dem Schönen, dem Einmaligen hinzugeben, es genießen, weil es einmalig ist, es zu lieben, weil es vergeht – darin liegt das Geheimnis der Heian-Zeit und des Taketori-monogatari [der Geschichte des Bambussammlers]“ (zit. n. Michael Weiss, S. 251, URL: http://othes.univie.ac.at/14524/1/2011-03-03_9112034.pdf).

 

Momotarō – Das Kind aus dem Pfirsich

Kurz zusammengefasst handelt die Geschichte von einem Jungen, der aus einem Pfirsich geboren wird (ähnlich wie die Prinzessin in der Geschichte vom Bambussammler). Der Junge ist außergewöhnlich stark und mutig und entschließt sich bald, die Dämonen auf der Dämoneninsel zu bezwingen. Auf seinem Weg zur Insel findet er treue Diener in Form eines Hundes, eines Affen und eines Fasans. Die vier Krieger schaffen es unter der Führung von Momotarō, die Dämonen der Insel zu unterwerfen und das Böse zu besiegen.

Die Geschichte ist heutzutage eine der bekanntesten in Japan, was unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass die japanische Regierung das Heldenmotiv von Momotarō zur Kriegspropaganda im zweiten Weltkrieg nutzte. Das Motiv erschien in vielen Büchern, Geschichten, Filmen und in der Schule und vermittelte Werte wie Gerechtigkeit, Mut, Stärke und Gemeinschaft. Implizit wurden in dieser Zeit bestimmte Figuren symbolisch ersetzt. Die japanische Regierung nahm die Rolle des Anführers, Momotarō, ein, während die folgsamen Tiere das japanische Volk symbolisierten. Oftmals wird hier insbesondere auf die Zuschreibung der USA als Dämon sowie Pearl Harbor als die zu bezwingende Dämoneninsel hingewiesen.

Fazit

An dieser Stelle möchte ich auf meine zu Beginn mir selbst gestellten Fragen zurückkommen: Welche Werte vermitteln japanische Märchen? Welche Aspekte, Konflikte etc. thematisieren japanische Märchen? Es lässt sich feststellen, dass japanische Märchen insbesondere stark religiös geprägt sind. Vor allem der Konfuzianismus zeigt starke Einflüsse mit seinen fünf erstrebenswerten Tugenden, die als Motiv immer wieder in verschiedenen Märchen auftauchen: Menschlichkeit, Würde, Aufrichtigkeit und Vertrauen, Gerechtigkeit, Weisheit. Auch die sieben Tugenden des Bushido (Weg des Kriegers – siehe zugehörige Buchvorstellung) tauchen immer wieder auf. Sie überschneiden sich zum Teil mit den Tugenden des Konfuzianismus (Weisheit fehlt), ergänzt allerdings die Tugenden Mut, Selbstbeherrschung, Ehre und Treue, welche insbesondere im Märchen von Momotarō zu finden sind. Weiterhin kristallisiert sich als zentrales Thema oftmals die Bedeutung der Familie heraus. Auch Essen scheint als Motiv eine wichtige Rolle zu spielen – oftmals werden besondere Menschen mit besonderen Fähigkeiten aus Pfirsichen, Melonen, Bambus o.Ä. geboren.

Die Frage, ob japanische Märchen auch heute noch Einfluss auf die japanische Kultur haben, lässt sich klar mit ja beantworten: die alten japanischen Märchen und Sagen sind auch heute noch oftmals Thema im traditionellen japanischen Theater sowie in Fernsehsendungen. Märchen werden modernisiert als Anime-Serien regelmäßig ausgestrahlt und erfreuen sich großer Beliebtheit. Auch das Beispiel der Propaganda mit dem Märchen Momotarō zeigt, welchen Einfluss Märchen noch heute haben und wie tief verwurzelt sie in der Kultur sind. Gleichzeitig ist anzumerken, dass heute auch viele westliche Märchen (Rotkäppchen, Die Schildkröte und der Hase, Däumeline, Die Bremer Stadtmusikanten, Schneewittchen) in Japan weit verbreitet sind.

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45 Responses to Buchrezension: Japanische Volksmärchen

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  45. scheibnerl says:

    Liebe Sara,
    ich finde es richtig toll, dass du ein vollkommen anderes Genre gewählt hast. Zwischen all den Romanen und Fettnäpfchenführern ermöglichen es uns die, von dir gewählten, Märchen eine völlig neue Perspektive einzunehmen und die japanische Kultur aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.

    Wie du schon richtig schreibst: Wie sonst kann man besser etwas über eine Kultur erlernen als über jahrhundertalte Märchen, die nicht durch moderne, subjektive Wahrnehmungen beeinflusst sind?

    Die zwei Märchen die du gewählt hast gefallen mir sehr gut. Zum einen ermöglicht uns das älteste Märchen vom Bambussammler einen Eindruck darüber zu bekommen, welche Werte bereits im alten, traditionellen Japan zählten. Mit dem heute sehr bekannten Märchen Momotarō hingegen werden auch Werte des jungen, modernen Japan wiedergespiegelt.

    Zwischen den japanischen und den in Deutschland bekannten Märchen erkenne ich auch viele Parallelen. Auch bei uns geht es oft um Liebe, das Gute, Ehre und Mut. Und auch in Deutschland werden Märchen oft modernisiert, neu verfilmt oder in Theatern nachgespielt.

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