„Das Haus auf dem Weg” von Hye-Kyoung Lee

  • Titel:    Das Haus auf dem Weg
  • Autorin:    Hye-Kyoung Lee
  • Ãœbersetzung:    Christina Youn-Arnoldi
  • Verlag:    Pendragon Verlag
  • Ort:    Bielefeld
  • Erscheinungsjahr:    1995 (deutsche Ãœbersetzung 2005)
  • Seiten:    283
  • ISBN-10:    386532018X
  • Preis:    18,50 EUR

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Motivation
Seitdem ich mich für das ASBE Programm entschieden habe interessieren mich vor allem die soziokulturellen Unterschiede. Besonders während des Sprachkurses am Landesspracheninstitut in Bochum, in dem wir auch die verschiedenen Höflichkeitsstufen, Floskeln und korrekte Verhaltensweisen behandelt haben, ist mir bewusst geworden wie weit unser gesellschaftliches Leben sich vom südkoreanischen unterscheidet. Einerseits bin ich verunsichert, da besonders die gesellschaftliche Ordnung – geprägt von fest definierten Hierarchieebenen im familiären und beruflichen Umfeld – soviele Möglichkeiten bietet in ein „Fettnäpfchen zu treten“ oder schlimmer, sich respektlos zu verhalten ohne dass es einem selbst direkt bewusst ist. Andererseits bin ich fasziniert von einem Land, das sich seit den 70er Jahren rasant entwickelt hat und Europa in einigen Bereichen, wie Technologie und Internet, weit voraus ist. Inwieweit spiegelt sich dieser Wandel in der Gesellschaft wieder? Dies ist eine der Hauptfragen mit der sich der Roman „Das Haus am Weg“ von Hye-Kyoung Lee beschäftigt und von dem ich mir erhoffe, ein besseres Verständnis für die koreanischen [1]  Gesellschaftsstrukturen zu erlangen.

Autorin
Hye-Kyoung Lee wurde 1960 in Boryeong in der südkoreanischen Provinz Süd-Chungcheong geboren und studierte an der Kyung-Hee Universität in Seoul Literatur. Nachdem sie an einer Oberschule als Lehrerin gearbeitet hatte, arbeitet sie seit 1993 als freie Autorin. „Das Haus auf dem Weg“ erschien 1995 und wurde 2004 mit dem LiBeraturförderpreis in Deutschland ausgezeichnet. Leider lassen sich keine weiteren persönlichen Informationen über die Autorin finden. Zu ihren weiteren Publikationen gehören: 그집앞 (Vor dem Haus) Seoul: Mineum 1998; 꽃그늘 안에 (Unter dem Schatten der Blüten) Seoul: Changbi 2002; 그냥 걷다가 문득 (Noch während ich ging, aus heiterem Himmel); 길 위의 집 (Das Haus auf dem Weg) Seoul: Mineum 1995; 너 없는 그자리 (Der Platz, an dem du fehlst) Munhakdongne 2012. Bisher wurde nur „Das Haus auf dem Weg“ ins Deutsche und Englische übersetzt.

Inhalt
Der Roman beschreibt eine Zeitspanne von etwa 20 Jahren im Leben der Familie von Herrn Kiljung [2]. Der Roman beginnt Mitte der 1970er Jahre und endet in den 1990er Jahren. Herr Kiljung lebt mit seinen vier Söhnen (Hyoki, Yunki, Jonki und Inki [3]), seiner Tochter Eunyong und seiner Frau, Frau Yun [4], in der Ortschaft Hancheon. Er kommt aus einfachen Verhältnissen und hat sich aus eigener Kraft ein kleines Imperium aufgebaut mit einer eigenen Eisenfabrik, einigen Grundstücken und eigenem Haus. Der Alltag der Familie spiegelt das traditionelle Patriarchat der koreanischen Gesellschaft wider. Es wird Herrn Kiljung gehorcht und seinem Lebensplan entsprochen. Zu Hause herrscht ständige Angst vor den Launen des Vaters, der seine Autorität ohne jeden Vorbehalt ausübt. Während „draußen“ eine Demokratisierung und Kapitalisierung der Gesellschaft voranschreitet, zerstören väterliche Tyrannei und überholte Moralvorstellungen von einem Familienbild die gesamte Familie. Der Konflikt zwischen Vater und Söhnen spitzt sich immer weiter zu und so versucht sich – jeder auf seine Weise – gegen das Patriarchat seines Vaters aufzulehnen.

Am deutlichsten werden diese verschiedenen Ausprägungen von Auflehnung im Vergleich der beiden ältesten Söhne, Hyoki und Yunki. Hyoki, der Ältere, hat seinem Vater stets gehorcht, nie hat er den Mut aufgebracht seinem Vater zu widersprechen. Er versucht den Vorstellungen seines stets Vaters zu entsprechen und ist auf der ständiger Suche nach Anerkennung: Er kommt wie verabredet an jedem Wochenende nach Hause, arbeitet in den Semesterferien in der Fabrik, heiratet eine Frau, die er nicht liebt, sein Vater aber für ihn ausgesucht hat und übernimmt schließlich das Familienunternehmen. Als auch dieser Schritt ihm keinerlei Respekt seines Vaters entgegenbringt, verbittert er, schließt die Fabrik, verkauft nach und nach dessen Grundstücke und lebt von Miet- und Pachteinnahmen. Auch wenn sich Hyoki schließlich doch auf diese Weise seinem Vater auflehnt, kommt es dennoch nie zu einem offenen, klärenden Gespräch zwischen den beiden.

Yunki, hingegen, ist von Kindheit an ungehorsam. Er kommt nie wie verabredet nach Hause und versteckt in den Semesterferien seine Geliebte Hyeonhee aus schlechtem Elternhaus bei sich im Gartenhäuschen. Als dies seine Eltern mitbekommen, reißt er von zu Hause aus. Die Liebe zwischen Yunki und Hyeonhee scheint die einzig echte in diesem Roman zu sein. Jung und verliebt mieten sie sich ein billiges Hotel und versuchen sprichwörtlich „von Luft und Liebe zu leben“. Als beide erkranken und kaum noch etwas zum Überleben haben, sieht Yunki keinen anderen Ausweg als zurück in sein Elternhaus. Er fügt sich dem Willen seines Vaters und heiratet eine für ihn ausgewählte Frau, für die er keinerlei Gefühle empfindet. Seine Wut gegenüber seinem Vater und die innere Zerstörtheit äußern sich in brutaler Gewalt und Ignoranz gegenüber seiner Frau.
Der jüngste Bruder Inki ist während der Studentenbewegung 1980 an einer Universität eingeschrieben. Zwar nimmt er auch an Demonstrationen teil, taucht aber unter als es ernst wird. Bei dem „Gwangju-Massaker“ ist er bereits weit weg von Seoul. Seine Feigheit und daraus resultierende Selbstverachtung seine Kommilitonen im Stich gelassen zu haben, verfolgen ihn sein ganzes Leben. Er hält nur noch den nötigsten Kontakt zum Elternhaus und zieht sich in eine Landkommune zurück.

Unscheinbar und doch von enormer Wichtigkeit ist die Figur der Tochter Eunyong. Sie ist so wie man es sich von einer Tochter erwartet: unscheinbar, bescheiden, aufopferungsvoll. Ihr Alltag ist langweilig und eintönig. Sie kocht für den Vater und kümmert sich um die Mutter als sie alt und verwirrt wird. Sie erträgt die Konflikte im Elternhaus schweigsam. Ihr einziges Glück scheint hier, dass sie nicht gegen ihren Willen verheiratet wird. Wobei offen bleibt, ob Herr Kiljung sie nicht lieber selbst als „Pflegekraft“ im Haus behalten will. Erst als Frau Yun gegen Ende des Romans vermisst wird, entsteht so etwas wie ein Zusammengehörigkeitsgefühl für alle Beteiligten. Alle Söhne kommen ins Haus des Vaters um gemeinsam zu suchen. So „unwichtig“ die Frauen in der bisherigen Handlung waren, umso mehr erhalten sie nun eine Schlüsselrolle als unschuldige Charaktere, die die zerrüttete Familie irgendwie doch zusammen halten.

Hintergrund
Der Roman spielt in einer Zeitspanne in der Südkorea sich mit einer Vielzahl großer wirtschaftlicher und politischer Veränderung auseinander zu setzen hatte. Die 1970er Jahre sind geprägt von wirtschaftlichen Aufschwung, die Elterngeneration „hat es aus eigener Kraft geschafft“ und ist materiell und finanziell abgesichert. In einer Diktatur großgeworden, sind sie vordefinierte Strukturen und Hierarchien gewohnt. Jeder weiß seinen genauen Platz in der Gesellschaft. Die Bevorzugung des Sohnes liegt im traditionellen Stammhaltergedanken und in der konfuzianischen Ahnenverehrung [5]. Das traditionelle Patriarchat ist also eine logische Notwendigkeit und wird nicht in Frage gestellt. 1979 wird Präsident Park ermordet und General Chun Doo-hwan übernimmt die Macht in ähnlich selbstherrlicher Weise. Es folgt die Studentenbewegung 1980 mit dem Gwangju-Massaker und weitere Studentenbewegungen Ende der 1980er Jahre. Der äußerliche wirtschaftliche Aufstieg führt zu einer Kapitalisierung und Demokratisierung des Landes, das Innere der Gesellschaft kämpft aber mit traditionellen Moralvorstellungen verbunden mit dem Leitbild des konfuzianischen Glaubens. Sie scheint verloren in einer Zeit in dem die patriarchale Macht an Bedeutung verliert und die Stellung der Familie in Frage gestellt wird. Das nach außen gelebte Weltbild einer zunehmenden Konsumgesellschaft scheint im Konflikt mit der inneren gesellschaftlichen Ordnung zu stehen.

Fazit
Zunächst muss ich ehrlich sagen, dass mir die Lektüre des Romans alles andere als leicht gefallen ist. Ohne die Anmerkungen und dem Nachwort der Übersetzerin wäre ich wohlmöglich trotz aufmerksamen Lesens verloren gewesen. Es werden eine Vielzahl von Metaphern verwendet, die sehr wörtlich übersetzt wurden und es keine deutsche Entsprechung gibt, die den Inhalt verständlich machen könnte. Die spannende, aber vor allem herausfordernde Multiperspektive, die jedem der Familie eine Stimme gibt, macht die individuellen Konflikte sichtbar.

Aus meiner persönlichen Sicht, in dem das Patriarchat keinerlei Bedeutung im Familienleben hat – weder in meiner, noch in der Generation meiner Eltern – ist es teilweise schwer nachzuvollziehen, warum sich alle Familienmitglieder vom Vater so erniedrigen lassen und nach seiner Anerkennung streben. Berücksichtigt man allerdings den Fakt, dass der Vater traditionell die wichtigste Person im koreanischen Haushalt ist, so lässt sich der zerreißende Konflikt, den jeder der vier Söhne mit seinem Vater führt, besser verstehen. Mein Bild von Familie war bisher geprägt von Liebe und sich Geborgenfühlen. All dies hat in Herrn Kiljung’s Welt nichts verloren. Die Familie scheint wie eine Einrichtung, die notwendig ist, damit jeder seinen Platz in der Gesellschaft hat.
Auch wenn der Roman keine „leichte Kost“ darstellt, konnte er mir helfen, die Strukturen in der koreanischen Gesellschaft besser zu verstehen. Mit diesem Wissen ist es auch nicht mehr all zu verwunderlich, dass selbst heute zum größten Teil die Eltern noch gesiezt werden. Sicherlich wird es schwierig sein die Gelegenheit zu haben, mich über eine solch persönliche Angelegenheit wie das Verhältnis zu den Eltern auszutauschen. Allerdings steht das Patriarchat stellvertretend auch für alle anderen starren Hierarchieformen in der koreanischen Gesellschaft. Ich bin gespannt, inwieweit sie in einer modernen Welt, dessen gesellschaftliches Leben sich immer weiter global angleicht, noch ausgeprägt sind.

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[1] “koreanisch” bezieht sich an dieser Stelle, wie auch im Folgenden auf Südkorea, wenn die Rede von “Korea” ist. Dies dient ausschließlich zur Vereinfachung des Leseflusses.
[2] Kiljung ist hier der Vorname.
[3] Von links nach rechts gelesen dem Alter absteigend geordnet.
[4] Yun ist hier Familienname. In Korea behalten Frauen in der Regel ihren Namen nach der Hochzeit.
[5] Die Ahnenzeremonie führt immer der älteste Sohn durch: “Nach konfuzianischen Glauben hungert der Tote im Jenseits, falls es keinen männlichen Nachfolger gibt, der diese[s] [Ritual] durchführen kann” (S. 282).

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One Response to „Das Haus auf dem Weg” von Hye-Kyoung Lee

  1. scheibnerl says:

    Liebe Theresa,

    vielen Dank für deine Buchrezension und die sehr verständliche Zusammenfassung der Handlung. Nun können wir den Roman mit einer Leichtigkeit lesen und müssen uns nicht durch die Anmerkungen und das Nachwort der Autorin durcharbeiten ;)

    Was mir gut an der Handlung gefällt ist, dass die Reaktionen auf den Patriarchalismus aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden (Sohn, welcher seine Rolle innerhalb der Familie hinnimmt und resigniert vs. den rebellierenden Sohn). Diese Perspektiven machen deutlich, welche unterschiedlichen Herangehensweisen Menschen mit denen ihnen vorgegebenen Strukturen haben. Und im Grunde sind es immer diejenigen, wie Yunki, welche Strukturen verändern und Menschen zum Umdenken bringen (auch wenn in dem Fall des Romans Yunki am Ende nachgeben muss).

    Ich denke dass der Sachverhalt, welchen du beschreibst (Patriarchalismus; Söhne & Töchter gehorchen dem Vater) keine rein koreanische Lebensweise darstellt sondern vielmehr die Rollen innerhalb der Familie in vielen Kulturen (zu “früheren Zeiten”) widerspiegelt. Dennoch ist es immer wieder spannend und auch erschreckend zu lesen & hören, welches Ausmaß solche Verhältnisse genommen haben. Wie du schon sagst – heutzutage ist dies schwierig nachzuvollziehen, wir können uns glücklich schätzen in einer eher selbstbestimmten Gesellschaft zu leben. Da ich das Thema sehr spannend finde und gerne mehr darüber wissen würde, wie die Rollenverteilung in koreanischen Familien heutzutage ist, freue ich mich über Kommentare dazu während und nach deinem Aufenthalt.

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