Buchrezension: Reportage Japan. Außer Kontrolle und in Bewegung

Rezension von Jonas Caase

Autorin: Judith Brandner
Titel:
Reportage Japan. Außer Kontrolle und in Bewegung

Cover Reportage Japan

erschienen: Picus Verlag, Wien
ISBN: 978-3-7117-1017-8
Preis: 14,90€

Autorin
Judith Brandner wurde am 15.04.1963 in Salzburg geboren und studierte Englisch und Japanologie in Wien. Seit 1984 ist sie als Journalistin für große österreichische Sender wie Ö1, DRS2 und SWR2 tätig. In ihren Sendungen geht sie vor allem auf die Bereiche Wissenschaft, Politik und Kultur ein Nachdem sie 1987 erstmals längere Zeit in Japan verbrachte, war sie ab 1995 für den ORF als Korrespondentin in Japan tätig. Von 2009 bis 2011 hatte sie eine Gastprofessur an der Städtischen Universität Nagoya. Angeregt durch ihre Reisen durch das „Land der aufgehenden Sonne“, schreibt sie immer wieder Reportagen, vor allem gesellschaftspolitische Themen behandeln. Diese werden sowohl im Radio, als auch in Printmedien wie dem „Spectrum der Presse“ publiziert.Im Frühjahr 2012, zum Jahrestag des Tsunamis in Japan, erschien im Picus Verlag ihr neuestes Buch: “Reportage Japan. Außer Kontrolle und in Bewegung”.

Meine Motivation
Bei der Suche nach einem Buch habe ich versucht, meine Vorlieben für Themen, die mich interessieren mit einzubeziehen. Da mich insbesondere Auslandsreportagen interessieren, weckte bereits der Titel des Buches mein Interesse. Da dieses Buch darüber hinaus die Folgen des Tsunamis in Japan aufgreift, habe ich mich bewusst für dieses Buch entschieden.

Inhalt
Am 11. März 2011 traf eine Flutwelle, ausgelöst durch das Tohoku-Erdbeben, das japanische Festland und zerstörte viele Küstenorte der Region. An diesem Tag erlebte die japanische Gesellschaft eine der schlimmsten Katastrophen der jüngeren Geschichte Die Kühlung des Atomkraftwerks Fukushima, das direkt an der Küste lag, wurde infolge der Flutwelle und eines damit einhergehenden Stromausfalls, unterbrochen. Diese Verkettung von Umständen führte zu einer Kernschmelze und Explosionen in den Reaktorblöcken 1 bis 4. Aufgrund von austretender Radioaktivität aus dem AKW Fukushima wurden alle Einwohner in einem Umkreis von 30 km um das Kernkraftwerk evakuiert. Etwa 16000 Menschen fielen dem Tsunami zum Opfer. Die Folgen für die japanische Wirtschaft waren immens. Schon kurz nach dieser Katastrophe wurde der Schaden auf 220 Milliarden Euro geschätzt. Mit dem Jahrestag der Katastrophe am 11. März 2012, wird die Frage drängender, die bisher nur vereinzelt gestellt wurde: Wie verändert eine solche Tragödie die japanische Gesellschaft?

Judith Brandner, die im Wintersemester 2011 an der Städtischen Universität Nagoya eine Gastprofessur innehatte, greift mit ihrem Band „Außer Kontrolle und in Bewegung“ aus der Reihe „Reportage Japan“ genau diese Frage auf. Die Autorin bietet in ihrem Vorwort, die Erläuterung grundlegender Begriffe an zeichnet zugleich ein erstes Bild Japans. Das Buch ist dabei in 12 Kapitel unterteilt, die so angelegt sind, dass der Leser sie unabhängig voneinander lesen kann. Brandner nimmt den Leser dabei mit auf eine Reise durch die japanische Gesellschaft und durch ein Land, das mit vielen Problemen zu kämpfen hat. Sie schafft es dabei durch eine sehr persönliche Erzählweise, die Atmosphäre nach dem Tsunami und das Leid der Betroffenen darzustellen und zugleich Interessantes und Wissenswertes über Japan anschaulich zu vermitteln. Dabei kommt der Japan-Kennerin ihr Wissen zugute, das sie seit ihrem Studium durch längere Aufenthalte erweitert und vertieft hat. Es wird deutlich, dass sie die Menschen in diesem Land versteht, und dies nicht nur auf sprachlicher Ebene.

Die Reise von Judith Brandner beginnt im noblen Tokioter Stadtviertel Minami-Aoyama. Dort trifft sie den Fotographen Katsuhiro Ichikawa, der zwischen 1998 und 2006 das normale Leben japanischer Bauern auf dem Land in Bildern dokumentiert hat. Durch die intensive Beschreibung der Bilder und Eindrücke Ichikawas erhält der Leser einen tiefen Einblick in das einfache Leben auf dem Land und begreift so auch, dass die Opfer des Tsunamis weit mehr verloren haben, als nur ihr Hab und Gut. Es gelingt Brandner gleich zu Beginn, den Leser zu fesseln und neugierig  auf mehr Geschichten aus einem Land zu machen, das sich grundlegend von unseren  der westlichen Kulturen  unterscheidet. Eindringlich beschreibt die Zukunftslosigkeit und den Verlust von Kultur, den die Menschen in den betroffenen Regionen erlitten haben, macht damit diese Szene für den Leser zu einer bedrückenden Leseerfahrung.

Die zweite Station ihrer Reise führt die Autorin in das Stadion von Nagoya, wo in der Gemeinde Rikuzentakas das landesweite Trommlerfest stattfindet. Sie trifft dort auf die die junge Mutter Mao, die durch den Tsunami Freunde und Verwandte verloren hat und die für die Zukunft ihres Kindes sorgen muss. An diesem Schicksal wird dem Leser die ungewisse Zukunft der Opfer vor Augen geführt, doch zugleich springt auch der Funke Hoffnung über, der die überlebenden Opfer in Japan antreibt. Die Gastfreundschaft, die der Autorin zuteilwird und die Solidarität, die sie schildert, machen dem Leser deutlich, dass viele positive Neuanfänge innerhalb Japans die Menschen zusammenschweißen.
In Tokyo trifft Brandner alte Herren, die als politische Aktivisten so lange im Regierungsviertel ausharren wollen, bis Japan aus der Atomtechnologie ausgestiegen ist. Es gelingt ihr, dem Leser ein authentisches und doch zu Anfang unwirkliches Bild eines Landes zu vermitteln, das den meisten Ausländern in dieser Intensität so vorenthalten bleibt. Durch ihre kritische Betrachtung der Medienlandschaft in Japan und der politischen Machtgefüge in der japanischen Gesellschaft  wird dem Leser bewusst, dass dieses Land seine ganz eigenen Regeln und Werte hat. Brandner zeichnet das Bild einer intransparenten Informationspolitik durch die Regierung und macht die Hilflosigkeit, mit der die Menschen in Japan dieser Situation begegnen.

Judith Brandner trifft auf ihrem weiteren Weg eine junge japanische Journalistin, die mit ihren Recherchen ein anderes Bild als das durch die offiziellen Informationsquellen  vermittelte erzeugt. Bei ihrem Besuch in Minamisoma lernt sie eine Gemeinde kennen, die gegen Radioaktivität als Umweltbedrohung und die dadurch bedingte Abwanderung der Bevölkerung kämpft. Die Autorin begleitet engagierte Freiwillige und diskutiert mit ihren Studierenden an der Universität in Nagoya, für die das Geschehene in den betroffenen Regionen weit weg zu sein scheint. Hierbei wird deutlich, wie wenig sich die japanische Jugend für die Politik des Landes interessiert und welch starken Einfluss die Medien auf die Gesellschaft haben.

Die Leitfrage des Buches: „Welche Auswirkungen hat der Tsunami auf die japanische Gesellschaft?“ wird in dem vorliegenden Buch nicht abschließend beantwortet. Ujdith Brandner beschreibt und schildert die Lebenswirklichkeiten im modernen Japan aus verschiedenen Blickwinkeln und ermöglicht es so dem Leser, sich selbst ein Bild zu machen und zu einer Einschätzung zu kommen. Die Aussage des Kulturkritikers Hiroki Azuma fasst den Eindruck Brandners sehr gut zusammen und zeigt auf, vor welchem Herausforderungen Japan steht: „Die Katastrophe hat uns auseinander gebrochen… Die Gesellschaft ist schon zuvor fragmentiert gewesen; es gab keine Solidarität zwischen den Generationen, in den Kommunen, in der Arbeitswelt. Die Katastrophe hat diese Risse nur noch sichtbarer gemacht“.

Ein Wort bleibt dem Leser jedoch in Erinnerung: „Kizuna“, und wird von einer japanischen Studentin wie folgt beschrieben: „das ist, wenn einander nahestehende Menschen Abschied voneinander nehmen müssen und dennoch wissen, dass sie über Ort und Zeit hinweg untrennbar miteinander verbunden sind“. Mit „Kizuna“ ist über die Wortbedeutung hinaus auch der innere Zusammenhalt verbunden, um den die japanische Gesellschaft ringt.

Durch den ansprechenden Schreibstil der Autorin und die Einblicke, die der Leser in die japanische Gesellschaft erhält, lohnt sich diese Buch für sowohl für alle Japan-Interessierten, als auch für solche Leser, die sich ein Bild von einem Land machen wollen, das man in dieser Form so nicht kennt. Dieses Buch regt an, sich mit Japan und seiner Kultur intensiver zu befassen.

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